Lektüre
 Handwerkszeug   Repro & Druck   Montage in Film & Comic   Bewegung im Comic   Urheberrecht 
Comic und Film | Die Einstellung | Der Schock- und Überraschungseffekt | Die Perspektive
Schuss und Gegenschuss | Der Achsensprung | Die Parallelmontage | Die Ellipse
Weitere Montagetechniken | Résumée
 

Montage in Film und Comic

Von Burkhard Ihme

Eine aktualisierte und erheblich reichhaltiger illustrierte Version kann auf der Seite der Gesellschaft für Comicforschung als PDF heruntergeladen werden

Das Medium Film und das Medium Comic haben sich in ihrer hundertjährigen Geschichte vielfach gegenseitig befruchtet und inspiriert. Sinnfälligster Ausdruck dieser Beeinflussung sind die Themen und vor allem Helden, die von dem einen zu dem anderen Medium wechselten: Donald Duck, Woody Allen und Alien vom Film zum Comic, Batman, Little Orphan Annie und Werner vom Comic zum Film. Auch in den Ausdrucks- und Gestaltungsmitteln fand und findet dieser Austausch statt. Doch je mehr der Film die Führungsrolle übernahm und den Comic an Popularität und Wirtschaftskraft übertraf, desto einseitiger geriet diese stilistische Befruchtung. Dies spiegelt sich auch in der Wertschätzung der Attribute filmisch und comicartig wieder. So ist ersteres in der Comickritik deutlich positiv besetzt, taucht dagegen letzteres in einer Filmkritik auf, so handelt es sich in den seltensten Fällen um eine hymnische Seligsprechung.

Mit diesem Begriff filmisch, der sich seit Beginn der siebziger Jahre in der Comic-Sekundärliteratur breit gemacht hat, wird in erster Linie die optische Aufbereitung der Handlung beschrieben, seltener die Erzählstruktur. Und er verbindet sich vor allem mit einem Schlagwort, das seit Hitchcock als der Inbegriff filmischer Gestaltungsmöglichkeiten gilt: der Montage.

Wurde in den Anfängen der Filmgeschichte jede Szene in langen Einstellungen mit einer feststehenden Kamera abgedreht, so entwickelte sich diese Kunst zwischen 1910 und 1940 zu einer Abfolge von Kamera-Fahrten, Schwenks und kurzen Einstellungen von meist nur wenigen Sekunden Länge, die am Schneidetisch zum fertigen Streifen montiert werden. Dabei entstand eine Bildsprache mit festen Regeln, die die Sehgewohnheiten der Zuschauer prägte. Eine simple Fernsehserie unserer Tage würde einen Zuschauer von 1908 völlig überfordern, da er diese Bildsprache nicht kennen und verstehen könnte. Jeder Schnitt, jeder Wechsel der Perspektive würde ihn verwirren und an eine neue Szene in veränderter Kulisse glauben lassen. Ähnlich einem comicungeübten Leser, der das Zusammenspiel von Text und Zeichnung nicht zu einem verständlichen Ganzen zu verbinden vermag, bliebe ihm der Sinn der Handlung verborgen. Parallel zur Entwicklung der Bildsprache im Film wurden auch die Comics zunehmend komplexer und verlangen dem Leser heute eine höhere Leistung beim Entschlüsseln des Geschehens ab (wobei eingestandenermaßen ein Vergleich von Krazy Kat mit einem Werner-Comic den umgekehrten Schluss zuließe). Auch im Comic können wir von Montage sprechen, mit der die einzelnen Bilder zu einer Geschichte zusammengefügt werden. Dabei entspricht jedes neue Bild einem Schnitt im Film, da sich der Leser jedes Mal aufs Neue über Ort und handelnde Personen orientieren muss. Im Gegensatz zum Film verfügt also der Comic nicht über das Mittel der Kamerafahrt, die in einer Bildfolge allenfalls simuliert werden kann.
  top  


Comic und Film

Lucky Luke (Morris)Nun könnte man folgern, dass die Gesetze, denen der Schnitt im Film folgt, denen gleichen, die bei der Montage im Comic angewendet werden. Dies gilt nur bedingt. Denn es gibt wesentliche Unterschiede zwischen Film und Comic. Zum einen läuft der Film in einer festen Reihenfolge der Handlung, der Szenen und Schnitte in einer begrenzten Zeit ab. Der Zuschauer kann das Kino verlassen, aber er kann nicht aus dieser Festlegung ausbrechen. Viele seiner Gestaltungsmöglichkeiten leitet der Film aus dieser Gegebenheit ab. Als Stichworte seien hier nur Überraschung und der Hitchcock-Begriff Suspense aufgeführt. Der Comic dagegen kann den Ablauf der Zeit nicht gestalten, da er nur geringen Einfluss auf die Lesegeschwindigkeit des Betrachters und die Reihenfolge, in der die dargebotenen Bilder angeschaut werden, hat. Der Zeichner kann durch bestimmte Kniffe den Leser zu schnellem oder langsamem Lesen verleiten, dazu zwingen kann er ihn nicht.

Dafür bietet der Comic Raum für Details und kleine Gags, die sich im Hintergrund des Bildes abspielen und oft interessanter sind, als die eigentliche Geschichte. Dies ist möglich durch einen weiteren, wenig beachteten, nichtsdestotrotz aber essenziellen Unterschied zwischen den beiden verwandten Medien: Der Film hat, schon technisch bedingt, nur einen begrenzten Schärfebereich. Seinen Einschränkungen kann er nur durch komplizierte Tricks entfliehen. Orson Welles ließ in Citizen Kane getrennt aufgenommene Bildteile zusammenkopieren. Hitchcock verwendete in Spellbound das stark vergrößerte Modell einer Hand, mit der Leo G. Carroll die Waffe im Vordergrund auf sich selbst richtete, während im Hintergrund Ingrid Bergman das Zimmer verließ. Die natürliche Unschärfe im Bildhintergrund erleichtert es dem Regisseur aber auch, die Aufmerksamkeit des Betrachters auf wesentliche Bildinhalte zu lenken und jenem, Motive und Personen schnell erfassen. Der Comic dagegen besitzt in allen Teilen eines Bildes eine Tiefenschärfe, die uns aus der Malerei zwar durchaus bekannt ist, im realen Leben aber nicht existiert. Denn das menschliche Auge funktioniert ähnlich wie die optische Linse der Kamera: es erfasst nur die Objekte, die wir gerade fixieren, wirklich scharf und belässt das restlichen Geschehen quasi im Ungewissen. Der Comic erfordert deshalb auch ein längeres Verweilen des Auges auf dem einzelnen Panel (sofern, einer der oben erwähnten Kniffe, der Zeichner nicht bewusst auf Details und längeren Text verzichtet). Eine der großen Stärken der Comics ist also ganz "unfilmisch": das liebevolle Detail im Hintergrund, das Film- oder Helmut Kohl-Plakat, das, ohne in die Handlung direkt einzugreifen, dennoch permanent agierende Eichhörnchen, das sogar, im Film völlig undenkbar, seine Kommentare abgeben oder Gespräche mit anderen Hintergrundfiguren führen kann. Der Film benutzt zwar ebenfalls Nebenfiguren, die die Handlung durch komische Einlagen auflockern, doch müssen diese dafür, wenn auch oft nur für sehr kurze Einstellungen, zu Hauptpersonen werden, im Vordergrund bzw. im Schärfebereich der Kamera agieren. Die Erzählstruktur eines Filmes lässt aber nur eine begrenzte Anzahl solcher Einschübe zu, da sonst die eigentliche Handlung nicht vorankäme oder der Zuschauer den Faden verlöre. Im Comic dagegen kann ein philosophierender Wellensittich im Bildhintergrund oder aus dem Off heraus über 48 Seiten permanent Schopenhauer zitieren, und dennoch kann im Vordergrund die Handlung (bei allerdings verlangsamter Lesegeschwindigkeit) kontinuierlich ablaufen. Und die Akteure eines Comics können sogar denken, ohne dass das alte Bühnenmittel des "Beiseitesprechens" bemüht werden muss. Im Gegensatz dazu müssen Filmfiguren entweder laut denken (was in Beisein eines Gegenspielers, vor dem sie ihre wirklichen Ansichten und Absichten ja geheim halten wollen, nicht sehr glaubhaft wirkt) oder sie benötigen einen Erzähler, der in den meisten Fällen aber nur für eine Person sprechen (z. B. in Sunset Boulevard oder vielen Detektiv-Streifen des Film noir).

Und es gibt ein drittes gravierendes Unterscheidungsmerkmal der hier besprochenen Medien: während der Film seine Geschichte auf einer ständig gleich bleibenden (und natürlich erheblich größeren) Fläche abbildet, steht dem Comiczeichner eine variable Anzahl unterschiedlich großer Einzelbilder zur Verfügung, die sich zu einer Seite, einer Doppelseite und schließlich einem Heft oder Album zusammenfügen. Und nicht nur die Größe, auch die Form der einzelnen Panels ist ein wesentliches Gestaltungsmerkmal. Sehr lange oder hohe Bilder haben zweifellos eine andere Wirkung als quadratische oder runde. Und die Symbolik eines Bildes in Herzform ist für jeden Leser leicht zu entschlüsseln. Zudem stehen die Bilder, anders als im Film, nebeneinander, beziehen sich aufeinander und lassen den direkten Vergleich zu. Dies ermöglicht auch so außergewöhnliche Erzählweisen wie in Arzach (siehe Abbildung), in dem die große Darstellung in der Seitenmitte zwei verschiedenen Panels zuzuordnen ist, oder das, hier leider nicht abzubildende, Beispiel in Der Ursprung von M.A, Mathieu, in dem durch ein ins Papier geschnittene Loch Panels anderer Seiten in völlig neuem Kontext wieder auftauchen. Dieses Aufeinanderbeziehen der Einzelbilder hat aber nicht nur inhaltliche, sondern auch formale Konsequenzen. Der Bildaufbau einer Seite bestimmt die Erzählstruktur, das Nebeneinander der Panels erzwingt oft eine Gestaltung, die außerhalb des Kontexts der Seite völlig anders erfolgt wäre. Eher marginal, für die Gestaltung einer Comicseite aber dennoch von großer Bedeutung ist ein weiteres Unterscheidungsmerkmal: die Leserichtung. Ist die Bewegungsrichtung nach links oder nach rechts im Film relativ gleichwertig, so erzeugt die Leserichtung im Comic eine deutliche Präferenz der Links-Rechts-Bewegung. Auch aus diesen Gesetzmäßigkeiten einer Seitengestaltung ergibt sich oft ein Konflikt zu den Erfordernissen der filmischen Montage.

Ich möchte im Folgenden auf einzelne Möglichkeiten der Montage eingehen und ihre Vor- als auch Nachteile bei der Gestaltung eines Comics erläutern.
  top  


Die Einstellung

Ein Film wird aus verschiedenen Kameraeinstellungen mit unterschiedlicher Brennweite aufgenommen. Dabei unterscheidet man im Wesentlichen zwischen Panorama-Einstellung, Totale, Halbtotale, Halbnah-, amerikanische Einstellung, Nah- und Ganz nah- sowie Detail-Aufnahme. Bei einem Wechsel der Einstellung auf das selbe Motiv, der nicht durch eine Kamerafahrt, sondern durch Schnitt erfolgt, ist darauf zu achten, dass der Ausschnitt nicht zu ähnlich gewählt wird, da der Sprung sonst nicht als deutliche Veränderung, sondern als unmotivierter Ruck empfunden wird. Gutgemeinte Schnittregeln empfehlen, eine Szene mit der Totalen zu beginnen oder eine solche spätestens in der folgenden Einstellung einzufügen.

Ein Comiczeichner geht bei der Gestaltung einer Handlungssequenz im Prinzip von den gleichen Gesetzmäßigkeiten aus. Allerdings wird der Bildsprung beim Wechsel zwischen zwei sehr ähnlich gewählten Einstellungen nicht als Irritation, sondern eher als langweilig empfunden.
  top  


Der Schock- und Überraschungseffekt

Der optische Überraschungseffekt ist für viele Filmgenres wie Horror- oder Actionfilm unverzichtbar. Man kann in eine inhaltlich und eine schnitttechnisch bedingte Schockwirkung unterscheiden. Inhaltlich, wenn sich plötzlich ein Monster auf sein Opfer stürzt oder unvermutet eine Bombe explodiert. Schnitttechnisch lässt sich ein ähnlicher Effekt erzielen, indem in eine Totale eine extreme Nahaufnahme montiert wird (oder ein überraschender Wechsel der Perspektive erfolgt - siehe unter Die Perspektive). Dabei ist die Wirkung zunächst unabhängig davon, ob es sich um einen Totenkopf oder um ein Gänseblümchen handelt, insbesondere bei entsprechender akustischer Untermalung. Diese Montagetechnik ist im Comic natürlich zu imitieren, wird dort aber lediglich zur optischen Spielerei. Eine Schockwirkung auf den Leser lässt sich damit schwerlich erzielen. Aber auch der inhaltliche Überraschungseffekt bleibt im Comic (schon bedingt durch das Leseverhalten des Betrachters, der in der Regel erst die ganze Seite, und dort zuerst die optisch aufreizendsten Bilder, erfasst, bevor er die Geschichte in der vorgesehenen Reihenfolge liest) in seiner Intensität erheblich hinter dem zurück, der sich bei seinem Einsatz im Film einstellt. Beide Effekte treten im Film oft in Verbindung auf und verstärken sich so gegenseitig.

Die berühmtesten Horrorstorys der Comicgeschichte erschienen in den fünfziger Jahren bis Einführung des Comic-Codes im amerikanischen EC-Verlag von William Gaines. Sie kompensierten die geringeren Möglichkeiten des optischen Überraschungseffektes durch ausgeklügelte Plots, aber auch durch bis dahin nicht gekannte Gräuelbilder, die ihre Wirkung aus der Darstellung verwester Leichen und zerstückelter Menschen bezogen.

Analog zum optischen Überraschungseffekt gibt es auch einen Überraschungseffekt im Dialog. Jede sprachliche Pointe und jeder Witz beruhen auf einer unerwarteten Wendung. Ist diese Wendung voraussehbar oder bereits bekannt, nimmt die komische Wirkung ab. Der Überraschungseffekt im Dialog ist im Comic ebenso wirksam wie im Film, mit eben den Abstrichen, die bei einem gelesenen gegenüber einem erzählten Witz zu machen sind.
  top  


Die Perspektive

Howard Hawks, der berühmte amerikanische Regisseur ("The big Sleep", "Rio Bravo", "His Girl Friday") drehte seine Filme bevorzugt mit der Kamera in Augenhöhe. Dies ist also die normale, meist auch funktionellste Perspektive. Der Blick aus der Vogelperspektive, oft bei Totalen (New York von oben) angewandt, lässt die dargestellten Personen als klein und unterwürfig erscheinen, der aus der Froschperspektive macht aus ihnen bedrohliche Riesen. Wer sich ein Bild über den Einsatz verschiedener Perspektiven zur Charakterisierung von Personen und zur Erzeugung unterschiedlichster Stimmungen machen will, sollte sich unbedingt Citizen Kane von Orson Welles daraufhin anschauen.

Extreme Auf- oder Untersicht haben aber auch einen starken Verfremdungseffekt und damit im entsprechenden Kontext etwas Bedrohliches (wie überhaupt Bilder mit einem dunklen, für den Betrachter nicht genau zu identifizierendem Hintergrund - bestes Beispiel dafür ist sicherlich "Alien" von Ridley Scott). In Hitchcocks Psycho wird die Ermordung des von Martin Balsam gespielten Detektivs in einer senkrecht von oben gedrehten Einstellung gezeigt. Obwohl die ihm drohende Gefahr durch die sich langsam öffnende Tür, hinter der der Mörder lauert, deutlich signalisiert wird (ein Paradebeispiel für die von Hitchcock Suspense genannte Methode, Spannung zu erzeugen), bewirkt der plötzliche extreme Wechsel der Perspektive einen der ungewöhnlichsten Überraschungseffekte der Filmgeschichte.

Da die Schauspielkunst von Comichelden trotz der Möglichkeit zur Überzeichnung durch das Fehlen stimmlicher Mittel und die Beschränkung auf wenige Bilder zwangsläufig weniger nuanciert ist als die ihrer lebenden Darstellerkollegen, greifen Zeichner gerne auf unterschiedliche Blickwinkel zurück. Superhelden und Superschurken sind fast ausschließlich in der Untersicht anzutreffen. Diese Mittel sind allerdings in hundert Jahren Film- und Comicgeschichte zum Klischee erstarrt, und daher eignet sich ihr Einsatz eher in parodistischer Absicht denn als ernstzunehmender Kunstgriff in einer anspruchsvollen Graphic Novel.
  top  


Schuss- Gegenschuss

Schuss - Gegenschuss bezeichnet kein Pistolenduell, sondern die von John Ford entwickelte Montagetechnik, die es erlaubt, zwei sich gegenüberstehende Personen beim Gespräch jeweils von vorne zu zeigen, indem jeweils über die Schulter des Kontrahenten gefilmt wird. Dabei ist zu beachten, dass die Kamera die Achse, in diesem Fall die gedachte Linie zwischen der Nase der einen und der Nase der anderen Person, nicht überschreitet (die Folgen eines solchen Achsensprunges werden weiter unten beschrieben). Dies bewirkt, dass der eineGesprächspartner nach links, der andere nach rechts schaut und somit Blickkontakt zwischen den beiden hergestellt wird. Schuss-Gegenschuss bezeichnet aber auch eine Montage, die die Vorder- und Rückansicht (gelegentlich kombiniert mit einem Blick aus der Vogel- und Froschperspektive) oder Gesicht und Blickfeld einer Person gegeneinander schneidet.
  top  


Der Achsensprung

Als Achsensprung bezeichnet man eine Montage, bei der zwei Aufnahmen einer Person oder eines Gegenstandes aus verschiedenen Richtungen aneinandergefügt werden und so die Seiten vertauscht werden (dabei überschreitet die Kamera die oben beschriebene Achse). Ein Auto, das eben noch von rechts nach links fuhr, ändert unvermittelt die Richtung, Kontrahenten tauschen die Plätze, Personen in Nahaufnahmen drehen scheinbar die Köpfe. Dadurch verliert der Zuschauer die Orientierung und kann der Handlung nur noch eingeschränkt folgen. Die Achse definiert sich in jeder Sequenz neu durch Stellung miteinander kommunizierender Personen oder die Bewegungsrichtung (die Achse verläuft parallel der Bewegungsrichtung). Unterhalten sich zwei Gesprächspartner im Fond eines fahrenden Autos, so entstehen auf diese Weise zwei Achsen mit unterschiedlicher Priorität, je nachdem, ob ich eine Nahaufnahme der Fahrgäste oder eine Totale oder Halbtotale des fahrenden Autos zeige. Beim Gespräch mehrerer im Kreis sitzender Personen entsteht ein kompliziertes Geflecht unterschiedlicher Achsen, deren Beachtung Geschick und filmisches Rüstzeug erfordert. Dabei wird die Arbeit des Regisseurs durch die Möglichkeit der Kamerafahrt erleichtert, die es ihm erlaubt, die Achse zu überschreiten und somit, ohne den Zuschauer zu verwirren, die Kehrseite der Medaille zu zeigen. Achsensprünge werden aber auch bewusst eingesetzt, um eine Atmosphäre der Verunsicherung zu schaffen.

Das meiste des oben gesagten gilt auch für den Comic, allerdings sind die Auswirkungen eines Achsensprunges dort nicht so krass, da der Betrachter sich die Zeit nehmen kann, sich neu zu orientieren, die Personen zu identifizieren und sich über die neue Perspektive klar zu werden, zumal er, anders als im Film, die vorausgegangene Einstellung zum Vergleich heranziehen kann. Die Lesegeschwindigkeit wird dabei jedoch verlangsamt. Die Darstellung einer Actionszene, die ja gerade Spannung und damit eine erhöhte Lesegeschwindigkeit erzeugt, lässt den Einsatz eines Achsensprunges also nicht gerade als geraten erscheinen. Im Film eine der sieben Todsünden, ist der Achsensprung im Comic dennoch fast auf jeder Seite anzutreffen. Nur wenige Zeichner versuchen, konsequent den Sprung über die Achse zu vermeiden. Zudem fehlt dem Comic die Möglichkeit der Kamerafahrt über die Achse, mit der im Film ein notwendiger Wechsel der Personenkonstellationen harmonisch eingeführt werden kann. Grund für den häufigen Seiten- und Richtungswechsel sind (neben einem möglicherweise geringeren Problembewusstsein) grafische Gestaltungskriterien für den Aufbau einer Seite. So bevorzugen es viele Zeichner, ihre Comichelden, sofern sie keinen direkten Blickkontakt mit einer Figur im selben Panel haben, jeweils zur Mitte der Seite schauen zu lassen, und mit immer neuen "Kamerastellungen" die Hintergründe abwechslungsreicher zu gestalten. Auch die Platzierung der Sprechblasen ist vielfach einfacher, wenn dabei ein Achsensprung in Kauf genommen wird.
  top  


Die Parallelmontage

Die Parallelmontage ist eine Erzähltechnik, die in Film wie im Comic gleichermaßen verwendet wird. Zwei zeitgleich ablaufende Handlungsstränge werden abwechselnd fortgeführt, bis sie in einem dramaturgischen Höhepunkt zusammenlaufen. Dabei soll (laut Dr. H. Mehnerts Schnittregeln) bei Parallelschnitten der Sprung von Szene zu Szene immer häufiger oder die Dauer der Teilszene immer kürzer werden, bis der Höhepunkt erreicht ist, und die Spannung sich im Schlussbild löst. Beispiel für eine Parallelmontage wäre die Darstellung eines Überfalls auf einen Geldtransport, bei der die Vorbereitung des Überfalls und die in alltäglicher Routine ablaufende Arbeit der Geldboten gegeneinander geschnitten werden, bis zum Höhepunkt, dem Zusammentreffen beim Überfall. Diese Technik ist ein wichtiges Element beim Erzeugen von Spannung, bei der der Zuschauer um die Gefahren weiß, die dem Held drohen (Suspense).

Ein extremes Beispiel von Parallelmontage im Comic ist die Adaption des Fernsehspiels Mörderische Entscheidung von Friedmann und Wyniger. Während das aus den verschiedenen Blickwinkeln der beiden Hauptakteure gezeigte Stück im Fernsehen parallel auf zwei verschiedenen Kanälen gezeigt wurde, versucht der Comic, die sich gleichzeitig an verschiedenen Schauplätzen abspielenden Szenen auf gegenüberliegenden, unterschiedlich farblich unterlegten Seiten zu erzählen. Ein Experiment, das fast zwangsläufig an den fehlenden Strukturierungsmöglichkeiten scheitern muss. Der Leser liest entweder die Geschichte so, wie sie ihm angeboten wird, mit all den eher zufälligen denn wirklich geplanten Wechseln der Blickwinkel, oder er ist gezwungen, sich quasi seine eigene Dramaturgie durch Springen von der einen auf die andere Seite zu schaffen. Gerade dies war das Konzept dieses Krimis: der Zuschauer sollte durch Umschalten vom einem zum anderen Kanal sich seine eigene Geschichte zusammenstellen. Doch was schon im Fernsehen nicht funktionierte (immerhin konnte der Zuschauer aufs Seitchen verzichten und sah dann zumindest ein einigermaßen erträglichen Fernsehspiel), wird im Comic nicht besser, eröffnet dem Käufer aber wenigstens die Möglichkeit die Geschichte zweimal halb, also aus der Perspektive jeweils einer Hauptperson, zu lesen.
  top  


Die Ellipse

aus: LEUTNANT BLUEBERRY Band 11 von Giraud & Charlier © Dargaud/DeltaEllipse bezeichnet in der Grammatik die Ersparung von Redeteilen in benachbarten Sätzen. Im Film wie im Comic bedeutet Ellipse das Auslassen von Handlungsteilen, die sich im Folgenden von selbst erklären (so wird z.B. nicht gezeigt, wie jemand die Tür hinter sich schließt, obwohl sie im Fortgang der Geschichte geschlossen ist). Da zwischen den einzelnen Bildern eines Comics immer eine (manchmal sicher sehr kurze) Zeitspanne verstrichen ist, kann die Ellipse als die wichtigste Montageregel im Comic bezeichnet werden.

Die Montage bietet aber auch die Möglichkeit eine Handlungssequenz von nur wenigen Sekunden in viele kurze Einstellungen zu zerlegen und damit zu dramatisieren. Das bekannteste Beispiel ist die Szene, in der Janet Leigh in Psycho unter der Dusche ermordet wird. Hitchcocks Second Unit-Regisseur Saul Bass (auch bekannt als Regisseur von "Phase lV") aus: "Julian B." (Band 1) von Plessix und Dieter © Delcourt/Ehapadrehte den Tod der Hauptdarstellerin in 57 Einstellungen. Im Comic wird diese Montagetechnik oft kopiert, indem kleine Detailbilder in den Handlungsablauf eingeklinkt werden. Eine direkte Umsetzung der Psycho-Szene würde sich im Comic allerdings über mehrere Seiten hinziehen und würde deshalb, außer in japanischen Mangas, am Platzproblem scheitern.

Dagegen wird eine sehr verwandte Technik im Comic gerne angewendet, nämlich die Zerlegung des Augenblicks in mehrere, im Kontext der Seite miteinander verknüpfte Einzelbilder, die praktisch ein Einfrieren der Zeit bewirken. Diese Montage verbindet also nicht verschiedene Handlungsstränge miteinander, sondern verschiedene Aspekte einer einzigen Szene.
  top  


Weitere Montagetechniken

Neben dem Schnitt ist die Blende die im Film gebräuchlichste Form, um zwei Szenen miteinander zu verbinden. Meist ist ein Zeit- oder Ortswechsel damit verbunden. Die Wisch- oder Reißblende, bei der ein durch schnelles Bewegen der Kamera unscharfes Bild der einen Szene an ein ähnliches der nächsten Szene geschnitten wird, ist eine weitere, allerdings wesentlich temporeichere Möglichkeit. Blenden werden im Comic nur gelegentlich imitiert (die im Comic gebräuchlichste Zeichentechnik der kolorierten Schwarzweißzeichnung erschwert dieses Vorgehen). Weitere Blenden sind Auf- und Abblenden, die im Film den Anfang oder das Ende einer Sequenz von Szenen signalisieren. Aus verständlichen Gründen findet man diese Montagetechnik im Comic äußerst selten (um nicht zu sagen: nie). Quelle: SQUEAK THE MOUSE von Massimo Mattioli © Editions Albin Michel/Edition Kunst der ComicsAllerdings wird eine Sonderform der Abblende, die in den Anfängen des Films häufig verwendete Kreisblende, bei der sich das Schwarz kreisförmig um den Protagonisten der Szene schließt, gelegentlich im Comic zitiert. Dieses Spiel mit dem Wissen des Lesers verweist meist auf inhaltliche oder formale Zusammenhänge mit Slapstickkomödien der Stummfilmzeit. Der Reißblende, bei der durch den Wischeffekt ähnlich gewordene Motive aneinander geschnitten werden, verwandt ist der Zusammenfluss zweier Szenen, eine Montagetechnik, bei der im Aufbau oder Inhalt ähnliche Motive aneinander gefügt werden. Z.B endet die eine Szene mit einer Detailaufnahme einer Champagnerflasche, die nächste beginnt mit einer Wegfahrt von einer anderen Flasche. Diese Technik ist im Comic sehr effektiv einzusetzen, wird aber etwas langatmig,Quelle: "Die schwarze Orchidee" von McKean & Gaiman © DC/Carlsen wenn dabei die verbindenden Objekte außerhalb des eigentlichen Geschehens liegen und deshalb eine Kamerafahrt zum Ort der Handlung simuliert werden muss. Schneller und direkter ist da das Mittel der Metamorphose, eine im Zeichentrickfilm bisweilen bis zum Überdruss verwandte Technik. Sie benötigt im Comic nur wenige Zwischenbilder, wird allerdings auch (siehe Beispiel McKean) eingesetzt, wenn die formale Ähnlichkeit der zu verbindenden Elemente den Zwischenschritt nicht zwingend erforderlich macht.
  top  


Résumée

Der Comic hat, vor allem in den letzten zwanzig Jahren, viel vom Film profitiert, der hingegen seine Vorbilder verstärkt in der Ästhetik von Werbung und Videoclips suchte. In naher Zukunft wird sich dies sicher auch in den Comics widerspiegeln. Trotzdem darf dabei nicht übersehen werden, dass der Comic den Film nicht wirklich imitiert hat. Dazu sind die Erfordernisse der Gestaltung zu unterschiedlich (neben den bereits aufgeführten Unterscheidungsmerkmalen allein schon die Notwendigkeit, im Comic vermehrt mit Totalen und Halbtotalen zu arbeiten, vor allem bei Dialogen, die im Film oft in Nahaufnahmen der redenden Personen aufgelöst werden). Zeichner, wie Yslaire oder, mit Einschränkungen, Comes und Hulet, die ihre Comics im Sinne der oben aufgeführten Schnittregeln des Films aufbauen, sind selten. Die meisten, von begeisterten Kritikern als filmisch bezeichneten Comics, würden als Storyboards nicht funktionieren.

Ganz klar gesagt: ein Comic soll auch kein Storyboard sein, sondern ein Comic. Und dieser Artikel wird die Comics nicht ändern, allenfalls bei dem einen oder anderen Zeichner das Problembewusstsein für einige Aspekte seiner Arbeit schärfen, vielleicht, die Kritikerszene in Deutschland ist klein, den leichtfertigen, von nur geringer Sachkenntnis getrübten Umgang mit, der Filmbranche entlehnten, Begriffen und Klassifizierungen ein wenig eindämmen, und damit wäre schon viel erreicht. Eventuell bekomme ich doch kein Magengeschwür beim Lesen deutscher Sekundärliteratur.
  top  

Eine leicht überarbeitete Fassung findet man auf der Seite der Gesellschaft für Comicforschung ComFor und im Tagungsband der ComFor "Struktur und Geschichte der Comics – Beiträge zur Comicforschung", herausgegeben von Prof. Dietrich Grünewald (Ch. A. Bachmann Verlag 2010), dort allerdings ohne einige wichtige Illustrationen.