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COMIC!-JAHRBUCH 2017

Der niederländische Comicmarkt:
Comicverlage entdecken
kulturelles Erbe

Von Rik Sanders
Aus dem Niederländischen von Marcus Kirzynowski


In Frankreich und Deutschland ist das Phänomen schon länger bekannt und jetzt beginnt es, auch in den Niederlanden durchzudringen: Comicverlage, die Gesamtausgaben klassischer Reihen auf den Markt bringen. Sogar Verlage, von denen man das nicht erwartet, wie der neue Graphic-Novel-Verlag Scratch, lassen sich durch nostalgische Gefühle in Bezug auf ihre Jugend leiten. Und – nicht unwichtig – es gibt offenbar einen Markt für schön gestaltete «Kulturerbe-Ausgaben».

Es besteht ein Bedürfnis nach alten Comicklassikern. Dupuis ging auf dem französischen Comicmarkt schon vor rund zehn Jahren mit einer Reihe Gesamtausgaben unter dem Label Patrimoine auf dieses Verlangen ein. Dabei wurden klassische Comics in ansprechenden Hardcoverausgaben gebündelt, ergänzt um ausführliche Hintergrunddossiers und unveröffentlichtes (Skizzen-)Material. Dieses Konzept schlug ein, weitere Verlage folgten, auch in anderen Ländern wie Deutschland.
Niederländischsprachige Comicliebhaber blieben jedoch von dieser Art schöner Ausgaben zur Ehrung des kulturellen Erbes ausgeschlossen. Bis der Verlag Sherpa 2013 den Ball aufnahm und mit seiner ersten Sammelausgabe von «Roodbaard» (deutsch: «Der Rote Korsar») die Initiative ergriff. Die stellte sich als großer Erfolg heraus, woraufhin auch andere Verlage mit Gesamtausgaben begannen.


Gebündelte Klassiker

So ist die Sammelreihe «Klassikers gebundeld» bei Arboris gut in Gang gekommen, in der Serien wie «Baard en Kale» (dt.: «Harry und Platte»), «Beverpatroelje» (dt. als «Die blauen Panther» bei Bastei), «Guus Slim» (dt.: «Jeff Jordan»), «Tanguy en Laverdure», «Jerry Spring», «Sophie» und «De Huurling» (d.i. «El Mercenario») erscheinen. Die Sammelbände werden auf getöntem Papier gedruckt, weil das nach Ansicht von Arboris am besten zu den restaurierten Farben der Comics paßt. Alle Geschichten werden neu übersetzt und im Stil der französischen Originalschriften gelettert. Arboris macht sich damit viel Arbeit, und so tauchen dann auch regelmäßig überraschende Funde auf. Im zweiten Sammelband von «Tanguy und Laverdure» ist zum Beispiel die Geschichte «Die Schwadron der Störche» um sechs Seiten ergänzt worden, die ausschließlich in der französischen Zeitschrift PILOTE erschienen waren und noch nie zuvor in einem Album veröffentlicht wurden.
Obwohl der brandneue Verlag Scratch sich mit Graphic Novels auf dem niederländischen Markt profiliert, hat er sich auch auf die Gesamtausgaben gestürzt. Die erste wurde «Jan Kordaat Integraal 1941–1946» (d.i. «Valhardi») von Jean Doisy und Jijé. Danach hat sich Scratch «Chlorophyl» (deutsch als «Anatol» bei Carlsen) von Raymond Macherot angenommen.
Der belgische Verlag Dupuis ließ sich auf einmal auch auf dem niederländischsprachigen Markt sehen und brachte «Johan en Pirrewiet» (dt.: «Johann und Pfiffikus») als Integral in vier Bänden in Hardcover mit interessantem Zusatzmaterial heraus. Dieser Comic von Peyo (Pierre Culliford) ist weniger bekannt als dessen «Die Schlümpfe», aber sicher auch lesenswert. Letztendlich schuf Peyo 13 Geschichten; sein letztes Album ist von 1970. Jahre später sollten sein Sohn Thierry Culliford, Alain Maury und Yvan Delporte die Serie noch mit vier Alben fortsetzen, die leider nicht in einen der vier Sammelbände aufgenommen worden sind, vielleicht aber in einem separaten Band erscheinen werden.
Auch die alten «Ton en Tineke»-Alben von André Franquin (deutsch als «Mausi und Paul» bei comicplus+ und demnächst als Gesamtausgabe bei Carlsen) können bei den Sammlern jetzt dauerhaft in den Plastikhüllen bleiben, denn bei Lombard erschien ein dickes Buch, in dem alle 183 Seiten chronologisch gesammelt sind – eingeleitet durch ein fettes Dossier, verfaßt von Christelle und Bertrand Pissavy-Yvernault.
Aber das ist noch lange nicht das Ende der Fahnenstange. Nach dem Erfolg von «Der Rote Korsar» hat Sherpa eine Gesamtausgabe von «Ravian en Laureline» (dt. als «Valerian und Veronique» bei Carlsen) begonnen und auch ein Auge auf die postapokalyptische Serie «Simon van de rivier» von Auclair (dt. als «Simon – Zeuge der Zukunft» bei Carlsen) geworfen. Zudem bringt Sherpa auch Luxusausgaben berühmter Geschichten von «Blueberry» mit schönen Dossiers heraus, während Dargaud eine Sammelausgabe dieses Westernhelden gestartet hat. Dargaud begann außerdem mit einer Hardcoverreihe der ersten «Michel Vaillant»-Alben, hat diese nach 13 Bänden aber doch wieder gestoppt [wie seinerzeit in Deutschland auch Carlsen. Diese 13 Geschichten umfaßten jeweils 62 Seiten, danach stellte Jean Graton auf 44 Seiten um, was der Serie nicht guttat. Anm. d. Hrg.].
Andere Beispiele sind die Collectie Retro des Verlags Saga, zu der Gesamtausgaben von «Bruce J. Hawker» und «Bruno Brazil» von William Vance und Greg zählen. Genauso wie Sammelbände von «Frommeltje en Viola» (d.i. «Bidouille et Violette», in Deutschland nicht erschienen) von Bernard Hislaire (Yslaire) und «Die Minimenschen» von Pierre Seron. Schade nur, daß Saga die Geschichten nicht neu übersetzt und oft das alte, altmodisch wirkende Lettering benutzt hat.
Erwähnenswert ist noch die zwölfteilige Serie «De gouden jaren van Mickey Mouse» (Die goldenen Jahre von Micky Maus) mit den langen Geschichten, die der US-Disney-Zeichner Floyd Gottfredson von 1936 bis 1957 für verschiedene Zeitungen zeichnete. Die Serie erscheint bei Dark Dragons Books, obwohl es inzwischen (wegen unbefriedigender Verkaufszahlen) unsicher ist, ob das komplette Dutzend Bände tatsächlich erreicht wird. Nicht vergessen werden darf auch die dreiteilige Ausgabe von «Die Partisanen» beim Verlag Prestige mit viel unbekanntem Material des Zeichners Jules in dem noch nicht erschienenen Abschlußband. Weiterhin gibt es noch Luxus-Neuausgaben von «Blueberry» und «Comanche» bei Sherpa, und Ballon Media beginnt anläßlich des 70. Geburtstags von «Lucky Luke» mit einer Neuedition dieser Serie.


Niederländisches Erbe

Was bei obenstehender nicht erschöpfender Aufzählung auffällt, ist, daß sich sowohl die einheimischen als auch die ausländischen Verlage hauptsächlich auf nicht niederländisches Material ausrichten. Das Comicerbe aus den Niederlanden läßt man vorläufig lieber links liegen. Zweifellos spielt das kleinere Sprachgebiet eine Rolle, mit dem zusätzlichen Nachteil, daß niederländische Comics kaum Anklang in Flandern finden und umgekehrt (mit «Suske und Wiske» als große Ausnahme).
Ausgaben, die das nationale Erbe würdigen, lassen sich an einer Hand abzählen. Der Verlag Panda ist eine Ausnahme mit seinen ansprechenden Reihen über «Eric de Noorman» (Erik, der Normanne, Hans G. Kresse) und «Ollie B. Bommel en Tom Poes» (Marten Toonder), und der neue Verlag Scratch macht zum Glück mit der Herausgabe der «Heinz»-Anthologie von den Künstlern Windig & De Jong weiter. Der Verlag de Bezige Bij hatte seine Reihe mit Sammelbänden der Comickatze Heinz abgebrochen. Scratch hat die Serie «Heinz: Van H tot Z» (Heinz: Von H bis Z) jedoch übernommen und im Mai 2016 den vorletzten Band «deel N» (Teil N) veröffentlicht. Diese Bündelung beinhaltet neben einer Auswahl Comicstreifen als Kerze auf der Torte auch viel Extra-Dokumentationsmaterial und Analysen. Eine andere Ausnahme ist der Verlag Sherpa, der fortlaufend den Zeitungsstripklassiker «Arman & Ilva» (1969–1975) von Thé Tjong-Khing und Lo Hartog van Banda in Luxusbänden mit viel Hintergrundinformationen herausbringt. Und möglicherweise wird Uitgeverij L, gegenwärtig in Besitz des Verlags Don Lawrence Collection (DLC), alte Comics von Martin Lodewijk («Agent 327», dt. bei Ehapa und toonfish) aus den späten 1950er Jahren veröffentlichen.
Eine große Überraschung war die Werkausgabe von «Kick Wilstra», dem berühmten Fußballcomic von Henk Sprenger. Der kulturhistorische Verlag Stokerkade bündelte die 18 «Kick Wilstra»-Comics in zwei Bänden mit einer ausführlichen Einleitung und sogar einer farbigen Episode dieses ursprünglich in Schwarzweiß gehaltenen Zeitungscomics. «Kick Wilstra» erschien zum ersten Mal 1949; Zeichner Henk Sprenger vereinte in dem Comichelden die Qualitäten der zu der Zeit berühmten niederländischen Fußballer Kick Smit, Faas Wilkes und Abe Lenstra. Kick Wilstra entpuppte sich als Wunder-Mittelstürmer bei den Vereinen Victoria, Malton Rovers und Titan und natürlich in der niederländischen Nationalelf. Auch außerhalb des Spielfelds steht der Comicheld seinen Mann als Kämpfer gegen das Böse und Retter in der Not.

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November 2016
Format: DIN A4
Umfang: 224 Seiten, davon 60 redaktionelle Farbseiten
Preis: EUR 15,25
ISBN 978–3–88834-947-8
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