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COMIC!-JAHRBUCH 2016

Die Niederländische Comicszene gibt nicht auf

Von Rik Sanders
Aus dem Niederländischen von Marcus Kirzynowski

Ein größerer Kontrast ist kaum vorstellbar. Der Artikel für das Jahrbuch von vorigem Jahr begann noch mit der Verleihung des Grand Prix du Festival 2014 auf dem Comicsalon in Angoulême an den in Frankreich lebenden niederländischen politischen Zeichner Willem (Bernhard Holtrop). Ein Jahr später steht auf dem Festival plötzlich der feige terroristische Anschlag auf Willems Kameraden von CHARLIE HEBDO im Mittelpunkt.

Der abscheuliche Angriff auf CHARLIE HEBDO erschütterte auch die Niederlande. Willem wurde als betroffener niederländischer Zeichner rauf und runter interviewt. Es stellte sich heraus, daß er dem Massaker entkommen war, weil er erst später auf der Redaktionskonferenz von CHARLIE HEBDO erscheinen sollte. Er fühlt sich auf Versammlungen nicht so wohl und hatte an dem unglückseligen Tag einen Zug später genommen. So wie in anderen europäischen Ländern hinterließ der Anschlag auf CHARLIE HEBDO auch in den Niederlanden unter den Zeichnern einen großen Eindruck. Unter anderem hatte er eine Sturzflut von Zeichnungen in Tages- und Wochenzeitungen und Zeitschriften sowie in Internetforen zur Folge. Ein paar Monate später war das «Je suis Charlie»-Gefühl etwas abgeebbt, trotzdem scheint das Bewußtsein, daß die Freiheit der Karikatur unter großem Druck steht, im Vergleich zum dänischen Karikaturenstreit vor einigen Jahren, größer geworden zu sein. Vielleicht deshalb nehmen manche Karikaturisten und Zeichner den Standpunkt ein, sich lieber nicht an (zu) explizite anti-islamistische Zeichnungen und Witzbilder zu wagen. Übrigens gewann Joep Bertram am 29. September 2015 den Inktspotprijs 2014/2015 (wörtlich: Tintenspottpreis) für einen messerscharfen Kommentar zum Anschlag auf CHARLIE HEBDO. Dieser Preis ist für die beste politische Karikatur im abgelaufenen Kalenderjahr bestimmt.

Das Belgische Comicmuseum bat nach der Terrortat bei CHARLIE HEBDO eine Reihe von Zeichnern, mit ihrem Zeichenstift darauf zu reagieren. Die Zeichnungen wurden anschließend auf eine Mauer in dem Brüsseler Museum projiziert (siehe auch «Tribute Drawings to Charlie Hebdo» auf YouTube). Auch der todkranke Peter Pontiac bekam so eine Anfrage und hatte die Kraft, noch eine beeindruckende Zeichnung zu machen. Es wurde seine letzte offizielle Zeichnung, denn elf Tage später verstarb er am 20. Januar an einer Lebererkrankung. Pontiac (1951–2015) ist der bekannteste Undergroundzeichner der Niederlande. Im September dieses Jahres erschien beim Verlag Podium sein Schwanengesang: «Styx. Of: de zesplankenkoorts» (Styx. Oder das Sechsplankenfieber). Diese unvollendete Ausgabe, die von seiner Reise in den Tod eingetrübt werden mußte, beinhaltet neben einem einzigen aufmunternden Intermezzo eine stattliche Auswahl von Briefen, die er seit 2012 über dieses Buch und seine Krankheit an seinen Bruder (den Comicpublizisten Joost Pollmann), eine Reihe von Freunden und seinen Verleger geschrieben hat.


Höhepunkte

Nach einem solch einschneidenden Ereignis wie dem Mordanschlag auf CHARLIE HEBDO wirkt das Aufzählen von «wichtigen» und «auffälligen» Geschehnissen in der niederländischen Comicszene der abgelaufenen zwölf Monate auf einmal wie eine Nebensache. Und doch nahm das Comicgeschehen nach einiger Zeit wieder seinen gewohnten Gang auf. Zum Beispiel wurde der Stripschapprijs verliehen, der wichtigste Comicpreis der Niederlande. Der ging 2015 an Marcel Ruijters (*1966) und wurde traditionell während der Stripdagen vergeben, die im vergangenen März in Gorinchem stattfanden. Die Wahl von Ruijters war überraschend, weil er abseits der festgelegten Pfade der niederländischen Comicwelt an einem eigenen «primitiven» Werk baut, namentlich durch sein Interesse am Mittelalter als Epoche, die ihn zu seinen Arbeiten inspiriert. Ruijters, der die Kunstakademie in Maastricht besucht hat, begann 1988 mit der Veröffentlichung von Comics nach eigener Vorstellung. Später erntete er Erfolg mit Büchern wie «Sine qua non» (2005), «Inferno» (2008) und «Alle Heiligen» (2013). In diesem Herbst ist im Auftrag der Bosch 55 Stiftung eine Comicbiographie über den Maler Hieronymus Bosch erschienen: «Jheronimus» (Verlag Lecturis).

Viel Aufmerksamkeit, auch in Radio, Fernsehen, Internet und in den Zeitungen, bekam die Comicadaption des literarischen Meisterwerks «Der Anschlag» von Harry Mulisch durch den Comic- und Trickfilmzeichner Milan Hulsing («Stad van klei»; Stadt aus Ton). Der Roman von Mulisch dreht sich um die Folgen eines Anschlags in Haarlem im letzten Kriegsjahr. Ein NSB-Agent [Nationaal-Socialistische Beweging in Nederland: nationalsozialistische Partei der Niederlande von 1931 bis 1945, während der Besatzung durch Deutschland die einzige von der NSDAP geduldete Partei des Landes, die mit den Besatzern kollaborierte; Anm. d. Ü.] wird erschossen in einem Haus gefunden. Als Vergeltung richten die Deutschen die Bewohner des Hauses hin, mit Ausnahme des jüngsten Sohns Anton Steenwijk. Aber der Mann von der NSB ist transportiert worden. Er wurde vor dem Haus der Nachbarn erschossen.Erst 40 Jahre später entdeckt Anton während einer Demonstration gegen Marschflugkörper endlich den Grund für diese Aktion. Hulsing macht daraus ein graphisches Fest. Er nimmt sich gege-nüber dem Roman die Freiheit, eine wirklich eigene Bearbeitung zu schaffen. Hulsing spielt raffiniert mit Farben. Die Gegenwart ist rot, die Vergangenheit blau. Ab und zu laufen Mischfarben durcheinander. Manchmal erzählt er die Geschichte durch einen Brief, ein Fotoalbum oder einen Zeitungsartikel, was das Tempo der Erzählung hochhält.

Auch eine andere graphische Buchadaption, die eine Verbindung zum Zweiten Weltkrieg hat, stieß 2015 in den heimischen Medien auf großes Interesse: «Het Stempel» (Verlag Gibbon) von dem in den Niederlanden lebenden russisch-amerikanischen Künstlerpaar Zehnya Pashkina und James Boekbinder basiert auf dem 2010 erschienenen Buch der niederländischen Publizistin Judith Uyterlinde: «De vrouw die zegt dat ze mijn moeder is» (Die Frau, die sagt, daß sie meine Mutter ist). In dieser sich langsam entfaltenden Familiengeschichte wird die Erzählung von Uyterlinde, einer heute lebenden Frau, die ein Kind adoptieren will, mit den Erfahrungen vorangegangener Generationen verwoben. Zentral ist darin die Entdeckung, daß sich die erste Frau ihres Großvaters als Jüdin herausstellt, Bep Bloemendal. Sie war noch keine 30 Jahre alt, als sie 1944 in Auschwitz von den Nazis ermordet wurde.

Auf den Geschmack gekommen?
Weiterlesen im COMIC!-Jahrbuch 2016
Links zum Artikel

«Tribute Drawings to Charlie Hebdo»
Rik Ringers
RuSt (Ruben Steeman)
Dirk van de Weil: «Van 9 tot 5»
Aloys Oosterwijk

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Dezember 2015
Format: DIN A4
Umfang: 264 Seiten, davon 24 redaktionelle Farbseiten
Preis: EUR 15,25
ISBN 978–3–88834-946-1
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