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COMIC!-JAHRBUCH 2016

«Meinungsfreiheit ist unser höchstes Gut»
Interview mit «Jewy Louis»-Cartoonzeichner Ben Gershon

von Jennifer Willms


COMIC!: Ben, wann und aus welchem Grund hast du angefangen, Cartoons mit religiösem Thema zu zeichnen? Gab es einen besonderen Anlaß?

Ben Gershon: Ich fing an, Cartoons zu zeichnen, als ich noch sehr klein war. Meine erste richtige Zeichnung malte ich tatsächlich an die Tapete meines Kinderzimmers, eine Darstellung von Ernie und Bert aus der Sesamstraße. Ich habe schon von Beginn an Zeichnungen angefertigt, die in einer gewissen Art und Weise «kommuniziert» haben oder eben irgendetwas cartoonhaftes an sich hatten. Im Alter von zwölf Jahren zeichnete ich dann meinen ersten jüdischen Comic. Ich war zur Bat Mitzwah einer Freundin eingeladen, und alle Gäste waren gebeten worden, etwas Kreatives zu einem Gästebuch beizusteuern, das dem Mädchen als Erinnerung an ihren speziellen Tag geschenkt werden sollte. Also zeichnete ich einen kurzen Comic für sie.
«Jewy Louis» wurde zum ersten Mal im Jahr 2004 veröffentlicht, in der Nieuw Israelitisch Weekblad (NIW), einer jüdischen Wochenzeitung in den Niederlanden. Später erschienen die Comics dann auch im San Diego Jewish Journal in den USA, dem Schweizer Wochenmagazin Tachles und in der Jüdischen Allgemeinen in Deutschland.
Mein Comicstrip «Jewy Louis» basiert auf einer modernen Version des jüdischen Humors. Humor ist zu einem untrennbaren Teil der jüdischen DNA geworden, und das ist es, was ich mit meinen Cartoons zum Ausdruck bringen möchte. Die Leser können sich mit den «Jewy Louis»-Cartoons identifizieren, sie erkennen die lustigen Situationen und kleinen Absurditäten des jüdischen Lebens in einer nicht-jüdischen Gesellschaft. Ich fange Jahrhunderte alte Traditionen aus einem neuen Blickwinkel zeichnerisch ein. Diese Comicstrips zu zeichnen und sie darüber hinaus in jüdischen Medien in Europa und den USA veröffentlichen zu können – und sogar Teil von Ausstellungen in jüdischen Museen sein zu können –, das illustriert sehr deutlich zum einen die extreme Anpassungsfähigkeit von Juden und zum anderen ihren außergewöhnlichen Sinn für Humor.

COMIC!: Wie bereitest du dich auf einen neuen Cartoon vor? Läßt du dich nur von Dingen aus dem realen Leben inspirieren, oder betreibst du auch mal Recherche in Büchern oder anderen Medien? Woher kommen deine Ideen?

Ben Gershon: Ich sitze an meinem Schreibtisch, halte meinen Bleistift in der Hand und warte darauf, daß der liebe Gott mir eine gute Idee schenkt. Das ist schon fast wie Magie. Ich kann Inspiration aus allen möglichen Dingen schöpfen: aus Unterhaltungen, aus etwas, das ich gelesen habe, wenn ich auf Reisen bin, wenn ich auf einer jüdischen Veranstaltung bin, ja sogar, wenn ich schlafe.

COMIC!: Hast du ein jüdisches Lieblingsthema, das du bevorzugt behandelst?

Ben Gershon: Ich mache mich gerne über eine Vielzahl jüdischer Themen lustig. Meine Comics behandeln hauptsächlich das jüdische Leben in einer nicht-jüdischen Gesellschaft. Also tauchen darin vor allem Situationen auf, in denen Juden auf Nichtjuden treffen. Aber ich schaue auch gerne mal von einem jüdischen Gesichtspunkt aus auf nichtjüdische Themen. Es gibt so unendlich viele Traditionen im Judentum, wie den Sabbat oder daß zum Beispiel orthodoxe Frauen einen Sheitel (Anm: eine Perücke) tragen. Über all das kann man sich prima lustig machen. 

COMIC!: Wie schwierig ist es für dich, Comics über Judaismus zu zeichnen und dabei nicht gegen das Gebot zu verstoßen, keine Bildnisse von Gott zu erstellen?

Ben Gershon: Gott ist in meinen Comics noch nie vorgekommen. Allerdings hat «Gott den Menschen nach seinem Abbild erschaffen», wie wir aus Genesis 1:27 wissen. Das ist die Basis des Bilderverbots, zusammen mit dem zweiten Gebot, das uns Götzendienst verbietet: «Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist.» Unter der Voraussetzung kann man sich natürlich fragen, ob es überhaupt erlaubt ist, etwas zu zeichnen, vor allem menschliche Wesen oder Figuren. Ich störe mich nicht daran, und ich denke, wenn es wirklich ein großes Problem wäre, würden meine Comics nicht in jüdischen Zeitungen abgedruckt oder in Synagogen ausgestellt. 

COMIC!: Gibt es für dich irgendwelche Tabuthemen in Bezug auf den jüdischen Glauben?

Ben Gershon: Für mich? Nein! Für andere? Ganz sicher!

COMIC!: Ist es denn deiner Meinung nach okay, sich über Religionen lustig zu machen?

Ben Gershon: Ja. Wir sollten nicht alles so furchtbar ernst nehmen. Laßt uns zusammen lachen! Kumbaya!

COMIC!: Wie ist es mit Gott? Darf man über den lachen?

Ben Gershon: Wieso denn nicht?

COMIC!: Das klingt sehr bestimmt. Wie sehen das deine Leser? Wurdest du schon mal dafür kritisiert, daß du Cartoons über religiöse Themen machst?

Ben Gershon: Natürlich verstehen nicht alle Menschen meine Witze immer so, wie ich sie meine. Manche fühlen sich sogar angegriffen. Aber das finde ich sogar gut, auch wenn es nicht sehr oft vorkommt. Als Cartoonist möchtest du ja Gefühle hervorrufen, du willst eine Reaktion auf das sehen, was du geschaffen hast, ob das nun ein Lächeln oder eine Diskussion ist. Ein guter Freund von mir, auch ein Comiczeichner, der leider letztes Jahr verstorben ist, sagte immer «Mit jeder Person, die du beleidigt hast, hast du zehn Menschen glücklich gemacht.» Ich stimme ihm zu. Dennoch ist es natürlich nicht meine Intention, Menschen wütend zu machen oder sie zu beleidigen. Ich möchte sie nur unterhalten und sie zum Lachen bringen. Es macht mich glücklich zu wissen, daß sogar sehr fromme Juden meine Comics lesen und darüber lachen können. Ich habe mich total geehrt gefühlt, als einer der einflußreichsten Rabbiner die Eröffnungsrede zu einer meiner Ausstellungen in einer ehemaligen Synagoge in Holland gehalten hat. 

COMIC!: Haben sich die Reaktionen auf deine Comics nach dem Anschlag auf CHARLIE HEBDO irgendwie verändert?

Ben Gershon: Nein, eigentlich nicht.

COMIC!: Wie hast du diesen Tag erlebt? Erinnerst du dich noch daran, was du gedacht hast, als du vom Anschlag auf CHARLIE HEBDO erfahren hast?

Ben Gershon: Ich kann nur sagen, ich war ehrlich schockiert, und es graute mir davor, wie diese Menschen brutal mit Kalaschnikows abgeschlachtet wurden. Der Terroranschlag auf CHARLIE HEBDO hatte zwei Komponenten: Zum einen der furchtbare Anschlag auf die Redaktion von CHARLIE HEBDO, bei der zwölf Menschen getötet wurden, und zum anderen die Geiselnahme im koscheren Supermarkt und der Mord an vier Juden in diesem Laden. Einen Monat später wurde der schwedische Künstler Lars Vilks bei einer Veranstaltung für die Redefreiheit angegriffen, ein Mensch wurde dabei getötet, und dann gab es noch den Anschlag auf die Synagoge in Kopenhagen, bei der auch ein Mensch ermordet wurde. Zwei Anschläge, die ganz klar gegen Comiczeichner und gegen Juden gerichtet waren, innerhalb von nur ein paar Wochen. Als Comiczeichner und Jude, der auch noch für jüdische Medien arbeitet, fühlte sich das natürlich nicht gerade angenehm an. 

COMIC!: Was hat sich für dich persönlich seit dem Anschlag verändert?

Ben Gershon: Ich gehöre nicht zu der Gruppe von Cartoonzeichnern, die beispielsweise Mohammed-Cartoons anfertigen. Das ist nicht mein Stil. Das Thema inspiriert mich ehrlich gesagt nicht wirklich, und es gab auch nicht wirklich einen Grund für mich, darüber zu zeichnen. Ich würde das Thema nur behandeln, wenn ich auch tatsächlich einen Beweggrund dafür hätte, also wenn es beispielsweise notwendig wäre, um eine lustige Situation umzusetzen. 
Die dänischen Zeichnungen fand ich überhaupt nicht lustig und in dem Zusammenhang daher auch ziemlich unnötig. Das heißt aber nicht, daß ich prinzipiell gegen sie eingestellt wäre. Überhaupt nicht. Es ist
wichtig, daß man sich bewußt macht, daß diese Cartoons keine aus der Luft gegriffene Publikation waren, sondern eine Antwort darauf, daß sich niemand traute, ein Kinderbuch von Kåre Bluitgen über den Koran zu illustrieren. Nach der Veröffentlichung in der JyllAnds
Posten reiste eine Gruppe von Imamen durch den Mittleren Osten, um Haß aufgrund der Cartoons zu säen. Dabei ergänzten sie die zehn Zeichnungen sogar mit anderen Cartoons, die sie noch blasphemischer fanden. Im Gegensatz zu den dänischen Karikaturen jedenfalls fand ich die CHARLIE HEBDO-Cartoons lustiger und auch besser gemacht. Sie paßten perfekt in das Portfolio der Zeitung, die sich über alles und jeden lustig macht. Nicht nur über den Islam. 
Nach dem Anschlag auf CHARLIE HEBDO habe ich selbst ein paar Cartoons zu diesem Thema gezeichnet. Das waren allerdings Cartoons, die in meinem normalen «Jewy Louis»-Stil gehalten waren. Durch die Anschläge, die auf Juden verübt wurden, habe ich jedoch keinen Verlag gefunden, der meine Zeichnungen drucken wollte. Ich verstehe, daß es viele Ängste gibt. Wenn ich einen geschmacklosen Cartoon zeichne, dann bringt das unter Umständen nicht nur mich selbst in Gefahr, sondern auch andere Menschen.

COMIC!: Robert Crumb sagte, daß es nach den Anschlägen noch wichtiger als zuvor sei, Cartoons zu zeichnen, die Religion lächerlich machen; und Art Spiegelman kritisierte die US-Medien dafür, daß sie die CHARLIE HEBDO-Cartoons nicht veröffentlichen wollten. Siehst du das genauso?

Ben Gershon: Da muß ich ein wenig ausholen. 1989 verhängte Ayatollah Khomeini, das damalige Staatsoberhaupt des Irans, eine Fatwa gegen den britischen Schriftsteller Salman Rushdie als Reaktion auf dessen Buch «Die Satanischen Verse». Das war ein bis dato beispielloses Ereignis und überraschte die internationale Gemeinschaft. Das muß man sich mal vorstellen: Das Oberhaupt eines Staates verlangt die Ermordung eines Schriftstellers aus einem anderen souveränen Staat!

COMIC!: Kannst du etwas mehr zu der Fatwa erzählen?

Ben Gershon: Sie richtete sich gegen die angeblich beleidigende Darstellung von Mohammed in Rushdies Buch und weist vier beachtenswerte Merkmale auf:
1) Die Fatwa besagt, daß «Die Satanischen Verse» «gegen den Islam, den Propheten und den Koran» seien und der Autor aus diesem Grund getötet werden müsse. In dem Zusammenhang stellte der Ayatollah eine Reihe von heiligen Thesen auf, die nicht diskutiert werden dürfen, ohne mit dem Tod bestraft zu werden.
2) Nicht nur Rushdie war ein Ziel dieser Fatwa, sondern jeder, der irgendwie in die Produktion und Veröffentlichung verwickelt war, wurde als «zum Tode Verurteilter» gehandhabt. Tatsächlich führte das zu Bombenanschlägen auf Buchläden in den USA, Italien und Großbritannien, und Übersetzer des Buches auf der ganzen Welt wurden angegriffen. 
3) Die Anordnung, Rushdie und alle anderen an der Veröffentlichung Beteiligten zu ermorden, sollte eine abschreckende Wirkung für die Zukunft haben, auf Leute, die vorhaben, den Islam ins Lächerliche zu ziehen oder zu beleidigen. Das Töten sei notwendig, «so daß niemand sich trauen würde, die heiligen Glaubensgrundsätze der Muslime in den Schmutz zu ziehen».
Und zu guter Letzt: Khomeini rief jeden Muslim in der Welt dazu auf, ihm Bericht zu erstatten und damit Teil eines informellen Netzwerkes zu werden, das darauf ausgerichtet ist, islamische Werte durch Gewaltandrohung aufrechtzuerhalten.

COMIC!: War das der Wendepunkt in der Geschichte?

Ben Gershon: Seit Erlaß dieser Fatwa durch Ayatollah Khomeini gegen Salman Rushdie im Jahr 1989, konnten wir immer wieder ein ähnliches Muster erkennen. Der Anschlag auf CHARLIE HEBDO ist ein weiteres trauriges Beispiel. Denk nur mal an den Mord am holländischen Filmemacher Theo van Gogh im Jahr 2004, an die dänische «Cartoon-Krise» zwei Jahre später, die Versuche 2008 und 2010, den dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard umzubringen, die Anschläge auf den schwedischen Künstler Lars Vilks (2010, 2015), die Todesdrohungen gegen den niederländischen Politiker Geert Wilders und Ayaan Hirsi Ali, gegen den französischen Philosophen Robert Redeker, die erst kürzliche Schießerei im texanischen Garland bei einem Mohammed-Cartoon Wettbewerb ...

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Dezember 2015
Format: DIN A4
Umfang: 264 Seiten, davon 24 redaktionelle Farbseiten
Preis: EUR 15,25
ISBN 978–3–88834-946-1
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