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COMIC!-JAHRBUCH 2015

Zeit-Geschichten
Spirou und das «Retro»-Phänomen

von Wolfgang Höhne

Wie «Superman» stammt die belgische Comicserie «Spirou» aus dem Jahr 1938 und ist damit – ebenfalls wie Superman – eine der ältesten noch laufenden Comic-Serien der Welt. Wobei «laufend» im Fall von «Spirou» ein relativer Begriff ist, denn die Bände erschienen in den letzten fünfzehn Jahren höchst unregelmäßig, sehr zum Ärger der Verlagsleitung von Dupuis. Eine formale Einstellung der Serie gab es indes nie, obwohl dieser Schritt bei jeder anderen Serie inzwischen wohl erfolgt wäre. Aber «Spirou» kann nicht eingestellt werden, solange es den Dupuis-Verlag gibt – egal in welcher rechtlichen Firmenkonstellation auch immer. Genau wie Micky Maus muß auch «Spirou» weiterexistieren, denn schließlich ist die Serie das offizielle «Flagschiff» des Verlags, ist das eingetragene Markenlogo sowie der Namensgeber des Presseorgans (Journal de Spirou). Doch diese Pflicht zu künstlich lebensverlängernden Maßnahmen hat zu ungewöhnlichen Nebenwirkungen geführt, denn die Serie um den roten Hotelpagen zerfasert zunehmend in einer bizarren Peripherie aus offiziellen oder halboffiziellen «Nebenprodukten», die der eigentlichen Serien inzwischen den Rang ablaufen. Und diese «Nebenprodukte» weisen ein höchst merkwürdiges Retro-Phänomen auf, wie man es so noch nicht gesehen hat.
Das Phänomen begann mit Yves Chaland, woran sich aber selbst in Frankreich und Belgien nur noch wenige erinnern werden. Nachdem die Ära Fournier 1982 zu Ende ging, warf auch Chaland seinen Hut in den Ring, um die Serie zu übernehmen. Als Purist der alten Garde wollte er sich aber auf die einstigen Serienerfinder RobVel (Robert Velter) und Jijé (Josef Gillain) berufen und strebte einen «zurückversetzten» Spirou im Stil der 1940er Jahre an, was für den Verlag aber (zurecht) nicht infrage kam. Denn Spirou war immer eine aktuelle Serie gewesen, spielte stets im «hier und jetzt» und nicht in der fiktiven Vergangenheit eines verflossenen «goldenen Comic-Zeitalters». Somit waren die Vorstellungen Chalands, die Handlungen der Geschichten grundsätzlich zurück in die 1940er, 50er Jahre zu verlegen und «Spirou» damit in eine historische Serie umzuwandeln, inakzeptabel. Zudem hatte die Serie ja gerade von Fournier einen deftigen Modernisierungsschub verpaßt bekommen, indem der rote Page seine ewige Hotelpagenuniform abgelegt und gegen rote Jeans und Anorak eingetauscht hatte. Dennoch wäre Chaland von seiner sonstigen Qualität her zweifellos eine gute Besetzung für die Serie gewesen. Doch er blieb leider stur bei seiner Linie und fertigte 1982 eine «Spirou»-Geschichte im strengen Retro-Look an («À la recherche de Bocongo»/Auf der Suche nach Bocongo; 1990 erneut veröffentlicht unter dem Namen «Cœurs d’acier»/«Herzen aus Stahl»). Der Verlag weigerte sich jedoch, das so eigenwillige Nostalgieprodukt in die reguläre Reihe der «Spirou»-Alben aufzunehmen, weil die Kinder damit nichts anzufangen wüßten. Stattdessen folgten dann die drei so fürchterlich schlechten «Spirou»-Alben aus der Feder von Nic Broca und Raoul Cauvin (1983 und 1984). Weil Yves Chaland aber andererseits ein berühmter Name in der Comic-Szene war und schon damals viele (vorwiegend erwachsene) Fans aufweisen konnte, verschwand die Geschichte nicht in der Schublade, sondern wurde in kleiner Auflage für ein erwachsenes Publikum veröffentlicht, gewissermaßen als «Sonderfall für Nostalgiker» (in Deutschland 1985 im Reiner Feest Verlag). Damit setzte diese merkwürdige, irreguläre «Spirou»-Geschichte den Präzedenzfall des «hors-série» («außerhalb der Serie»), also eines offiziellen Verlagsprodukts für Liebhaber, das zwar nicht zur regulären Serie gezählt wird, aber dennoch als eine Art Apokryph irgendwie dazugehört. Die Sache blieb zunächst ein Einzelfall und «Spirou» erlebte nach dem Nic-und-Cauvin-Desaster ab 1984 unter Tome und Janry eine neue Blütephase – modern und aktuell, nicht unbedingt für Kinder, aber sehr wohl für Jugendliche, genau so, wie es sich der Verlag gewünscht hatte. Doch der von Chaland initiierte Impuls ließ sich nicht mehr aus der Welt schaffen und machte (und macht) in Form zahlreicher weiterer Hors-série-Alben kräftig Schule. Vor allem der Kniff, diese irregulären «Beiwerke» zeitlich in der ersten Hochphase der Serie anzusiedeln, fand reichlich Nachahmer, wobei sich die meisten auf die Ära von André Franquin beriefen. All das wirft nebenbei ein vielsagendes Licht auf die qualitative Schwäche der eigentlichen Serie. Doch vorerst blieb alles ruhig. Spirou und Fantasio erlebten als Journalisten unter der Feder von Tome und Janry eifrig aktuelle Abenteuer. Eigentlich sollte jedes Jahr mindestens ein Album erscheinen – besser deren zwei. Doch 1998 geriet der Nachschub an Geschichten (und somit an Alben) plötzlich ins Stocken.
Es hatte nur ein kleiner Gag werden sollen, diese nur wenigen Seiten aus Spirous Kindheit im Band 38 «La jeunesse de Spirou» («Jugendsünden», Band 36 bei Carlsen). Doch dann passierte mit dem «kleinen» Spirou dasselbe wie rund zwanzig Jahre zuvor mit den Schlümpfen aus der Serie «Johann und Pfiffikus»: Der Knirps machte sich selbständig. Denn das Erfolgsduo Tome und Janry hatte seine Liebe für die Kurzgeschichten um den von ihnen kreierten «kleinen» Spirou entdeckt, der sich zudem schon bald viel besser verkaufte als der eigentliche Held. Hinzu kam, daß sie – anders als beim «großen» Spirou – an «Le petit Spirou» teilweise die Rechte besaßen, was ihren Verdienst abermals steigerte. Kurzum, sie hatten keine Lust mehr, ihre Zeit mit dem «richtigen» Spirou zu verschwenden. So kam es zu einer dramatischen, mehrere Jahre währenden Albumflaute der «Flagschiff-Serie», was die Verlagsleitung zunehmend erboste. Sie pochten auf Vertragserfüllung von mindestens einem Album pro Jahr, die Autoren aber weigerten sich und drohten ihrerseits mit der Einstellung des kommerziell so erfolgreichen «Der kleine Spirou», was für den Verlag ein herber Verlust gewesen wäre. Denn längst hatte der so freche und stets leicht frivole «kleine» Spirou sein großes Alter-Ego übertrumpft. Zudem war der letzte reguläre Band «La Machine qui rêve» (Band 46/«Jagd auf Spirou», Carlsen-Band 44) ungewöhnlich düster ausgefallen (gewissermaßen als Kontrapunkt zu «Der kleinenSpirou») und damit nicht mehr kindgerecht. Aber Tome und Janry wollten das alte Serienkonzept gerne überarbeiten und raus aus dem Kinderzimmer. Neue Zielgruppe: Jugendliche und junge Erwachsene.1 Doch der Verlag lehnte eine weitere Umdefinierung seines Markenzeichens in Richtung Erwachsenen-Comic ab. «Spirou» mußte, u. a. aus werbetechnischen Gründen, kindertauglich bleiben. Die Lage war vertrackt und für den Verlag in höchstem Maße unbefriedigend, denn seit nunmehr sechs Jahren war kein «Spirou»-Album mehr erschienen – für ein Markenprodukt, daß auf die Präsenz im Kinderzimmer setzt, eine kommerzielle Katastrophe. So wie Disney ohne Präsenz der Micky Maus. Aber trotz inzwischen schon verzweifelter Suche fand die Redaktion von Dupuis niemanden, der geeignet gewesen wäre, die Serie zu übernehmen. Tatsächlich dachten damals nicht wenige, daß dies das Aus für den kaum mehr zeitgemäßen roten Hotelpagen sein würde und daß mit «La Machine qui rêve» just im Jahr seines 60. Jubiläums (1998) der wohl endgültig letzte Band erschienen sei. Der alte Spirou schien tot zu sein, nur sein freches kleines Konterfei wuselte noch eifrig durch die Comic-Welt, stets auf der Suche nach sexueller Aufklärung, womit die Autoren sowohl bei pubertierenden Jugendlichen als auch bei jungen Erwachsenen den richtigen (und somit erfolgreichen) Ton getroffen hatten.

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