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COMIC!-JAHRBUCH 2015

Beruf: Erzähler
Ein Schlaglicht auf die Comics von Ralf König

von Frank Plein

An einem verregneten Spätsommertag im Jahre 1986 beschloß Susanne W., Lektoratsmitarbeiterin im Haus Rowohlt, daß es jetzt endgültig reiche. Ihr Mann ließ sich gehen und nahm jede Woche zwei Kilo zu, ihre Tochter färbte sich die Haare und zickte nur rum, und jetzt auch noch dieser, dieser ... COMICSCHWACHSINN auf ihrem Schreibtisch. Sie litt in höchstem Maße, und sie wollte, daß dieses Leiden wahrgenommen und anerkannt wird. Sie schnappte sich die Blätter und Hefte auf ihrem Tisch, stampfte zu Jürgen Volbeding, ihrem Chef, und warf sie ihm vor die Nase: «Schauen Sie mal, mit was für einem MIST ich mich jeden Tag auseinandersetzen muß!»
Und Jürgen Volbeding schaute und las. Und lachte. Und las noch mehr und lachte noch mehr. Ihm gefiel, was er sah, und er bat um die Telefonnummer dieses «Ralf König». «Ich lese gerade Ihre Comics und ich finde die Sachen großartig. Nur eine Frage – wir bringen im Schwerpunkt Romane heraus. Könnten Sie eine Story in Romanlänge für uns schreiben?»
Ralf König bejahte, und das war der Beginn nicht nur der bemerkenswertesten Comickarriere Deutschlands, sondern auch die Geburtsstunde der erste deutschen Graphic Novel, Jahrzehnte bevor das Wort in Deutschland die Runde machen würde.

Der Rest ist Comicgeschichte und ist, wie auch Jugend und Werdegang, hinreichend dokumentiert, besonders unterhaltsam dargestellt im Interviewband «Und das mit Links». Ralf König verbrachte seine Kindheit und Jugend in Westönnen, (wer es nicht kennt: westlich von Ostönnen), und während um ihn herum die Jungs Autoquartett spielten, verbrachte er seine Zeit mit «Asterix»-Figuren aus der Wundertüte, für die er sich Hunderte von Storys ausdachte. Und wie alle Kinder und Jugendlichen sehnte sich Ralf bereits in jungen Jahren nach Wissen und entdeckte sein Interesse für die Klassiker, insbesondere für Shakespeare. Doch das einzige, was er in den Schränken seiner Eltern vorfand, so sehr er auch die hintersten Schubladen durchwühlte, waren die Super-8-Pornofilme, die sein Vater, teilweise unter großem finanziellen Aufwand, aus dem benachbartem Ausland beschaffte. Das ausgiebige Studium dieser Medien prägte den Erzähler Ralf König nachhaltig. Bis heute sind die spärliche, fast stoisch zu nennende Kameraarbeit und die pointierten Close-ups erzählerisch besonders intensiver Momente ein Markenzeichen seiner Arbeit.
Auf dem westfälischen Acker waren die Arbeitsmöglichkeiten spärlich gesät, und Ralf begann nach dem Hauptschulabschluß eine Lehre als Schreiner, doch er merkte schnell, daß ihm Umfeld und Tätigkeit nicht lagen, und er hatte bereits verstanden, daß sein hormonelles Interesse nicht den Frauen galt. Wäre Ralf hetero gewesen, hätte er sicherlich seine Jugendfreundin geheiratet und sich ein bürgerliches Leben im westfälischen Hinterland aufgebaut. Doch so wie die Dinge lagen, gab es nur einen Weg zu einem authentischen Leben: den in die Großstadt. Ralf zog nach Dortmund und war bald auf der Bühne und als Zeichner in der Szene aktiv. Zu diesen Zeit – Ende der siebziger Jahre – standen die Undergroundcomics in ihrer Blüte und beeindruckten Ralf nachhaltig, besonders die schamlosen und enthemmten Zeichnung Robert Crumbs. Erste Veröffentlichungen folgten, und schließlich die Aufnahme an der Kunstakademie in Düsseldorf. In der Retrospektive «hatte ich in Düsseldorf gute fünf Jahre mit Superkollegen und BAföG, aber ich war dort fehl am Platz. Ich hatte kaum Interesse an zeitgenössischer Kunst, leider, muß ich heute sagen, aber ich hatte mich mit Comics beworben, bekam sofort einen Studienplatz und sollte dann die Comics vergessen.». Ralf bedauert, die Zeit auf der Akademie nicht genug genutzt zu haben, um die «klassischen» Maltechniken zu studieren: «Ich hätte viel lernen können, und könnte heute vielleicht handwerklich mit den verschiedensten Techniken jonglieren, wenn ich die zehn Semester für mich genutzt hätte. Aber ich hatte nur Comics im Kopf.»
Doch auch, wenn die vollendete Beherrschung der Ölfarbe auf der Strecke blieb, ermöglichte die Ausbildung Ralf, in aller Ruhe seinen Stil zu entwickeln, und mit der Entdeckung Claire Bretéchers fand er die perfekte Gestaltung für seine Inhalte: ein spontaner Strich, der Mimik und Körpersprache lebendig darstellen kann, und dazu noch sehr schnell von der Hand geht (also, wenn man Ralf König ist): Das knapp 120-seitige «Lysistrata» entstand innerhalb eines Monats. Und während man in den Achtzigern den Einfluß noch deutlich sieht, schwamm sich Ralf schon bald frei, die Formgebung wird runder und knubbeliger, teils inspiriert von anderen Zeichnern wie Vaughn Bodé oder Binet, ließen den Stil entstehen, den jetzt alle von Ralf König kennen.
«Der bewegte Mann» markierte den Durchbruch zum «Mainstream», und danach folgten jedes Jahr bis zu drei weitere Bücher. Zu jener Zeit war ich arm und studentisch und schlich mich in die Buchhandlungen, um dort die Comics zu lesen, denn ich war überzeugt, daß man Comics nur einmal liest (während rechts und links meine Stapel an Büchern und VHS-Kassetten anschwollen wie nix gutes). Aber als ich die Anfangsszene von «Bullenklöten» las und vor Lachen in der Buchhandlung zusammenbrach, fand ich es dann doch an der Zeit, das Buch zu erwerben, und las es in der Folgezeit sicherlich an die 300 Mal.
Ralf nannte die Achtziger einmal seine «Saftzeit», weil er mit schamloser Wucht ein Buch nach dem anderen rausdrosch, ohne Luft zu holen. Er lebte, reiste, zeichnete und genoß, und weder er noch irgendein anderer Mensch konnte ahnen, was in den kommenden Jahren geschehen würde.

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