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COMIC!-JAHRBUCH 2015

Bilderstürmer und Panikmacher
Zwischen Barbarella und
Neuer Frankfurter Schule:
Die Comic-Revolution der Sixties

von Jörg Petersen


«Heute, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, stürzen die alten Idole in sich zusammen, sind die alten Gebote seltsam belanglos geworden, die alten Dogmen nicht mehr gültig. Wir sind auf der Jagd nach einer neuen Idee, einem eigenen Ausdruck, nach etwas, was neben den Raumkapseln, Computern und Wegwerfartikeln unseres elektronischen Atomzeitalters bestehen kann.»
Warren Chalk1, 1964

Die Sixties erleben momentan – einmal mehr – ein beeindruckendes Revival. Denn nicht nur die erfolgreiche Fernsehserie «Mad Men» läßt den farbenfrohen Geist der Sechziger wiederaufleben, auch die Pop-Sirene Lana Del Rey entführt uns mit ihren Retro-Songs zurück in die Zeit von Flower Power und Gitarrensound. Zudem rufen edle Comic-Gesamtausgaben («Rick Master», «Luc Orient», «Bruno Brazil», «Roland, Ritter Ungestüm», «Die Abenteuer von Tanguy und Laverdure», «Der rote Korsar» etc.) oder die Neuedition von «Benni Bärenstark» das Jahrzehnt des Bond-Kults und die Ära der Studentenrevolte wieder in Erinnerung. Und der Zeichner Steff Murschetz hat mit U-COMIX ein Heft revitalisiert, das seinen Ursprung im Jahr 1969 genommen hat. Passend dazu plant der Berliner avant-Verlag für das Frühjahr 2015 den ersten Band einer opulenten Gesamtausgabe von «Valentina» (1965), der Kult-Comicserie des Italieners Guido Crepax.
Insbesondere die beiden letztgenannten Projekte verweisen darauf, daß die Sechziger nicht nur für soliden Mainstream-Comic stehen, sondern auch für wegweisende Veränderungen in der Comic-Kultur. «Barbarella» & Co. in Frankreich, die Underground-Comix in den USA oder PARDON in Deutschland bilden Wegmarken dieses Prozesses. Daher soll im Folgenden einmal der Fokus auf die revolutionären Comic-Novitäten der Sechziger gerichtet werden, wobei wichtige gesellschaftliche und popkulturelle Wechselbeziehungen allerdings nicht unerwähnt bleiben sollen. Ein Rückblick auf den Bildersturm eines aufregenden Jahrzehnts, in dem sich auch die Comic-Welt radikal verändert hat.


Gesellschaft im Umbruch

Die sechziger Jahre sind ein Jahrzehnt des Umbruchs und des Neuanfangs. So gelingt der Menschheit in dieser Zeit der Sprung in den Weltraum: 1961 umkreist Juri Gagarin die Erde, acht Jahre später setzt Neil Armstrong als erster Mensch seinen Fuß auf den Mond. Und auch die «sexuelle Revolution» nimmt in diesem Jahrzehnt ihren Anfang. Auslöser ist die «Pille», die eine zunehmende Freizügigkeit der Sexualität befördert: Sex ist nun nicht mehr an die Notwendigkeit geknüpft, eine Beziehung einzugehen oder gar eine Familie zu gründen.
Außerdem feiert die Pop Art in den Sechzigern ihren Siegeszug um die Welt. Entstanden Ende der 50er Jahre, breitet sie sich in den Sixties rasch aus und sorgt für eine Neubewertung der Alltagskultur. Der Maler Roy Lichtenstein vergrößert zum Beispiel Comic-Motive und stellt sie so in einen neuen ikonographischen Zusammenhang. «Look Mickey» aus dem Sommer 1961 markiert den Beginn dieser Phase, mit einem Motiv, das angeblich einem Kaugummi-Sammelbild entstammt und Micky Maus und Donald Duck beim Angeln zeigt. Später bedient sich Lichtenstein bei weiteren – ebenfalls eher unbekannten – Comic-Zeichnern wie Russ Heath, Tony Abruzzo oder Irv Novick.
Die Sixties stellen die Sehgewohnheiten allemal auf eine harte Probe. Beispielsweise entsteht nun auch die psychedelische Kunst: Unterstützt von ausufernder Rockmusik, exzessivem Drogenkonsum und internationalen Jugendstil-Retrospektiven (Alfons Mucha 1963/66, Aubrey Beardsley 1966) gerät sie schnell zum vibrierenden Ausdrucksmittel einer jungen Generation.
Den Soundtrack zum rebellischen Lebensgefühl liefert die Pop- und Rockmusik der damaligen Zeit. Bands wie Beatles, Rolling Stones, Doors oder Solokünstler wie Bob Dylan, Janis Joplin und Jimi Hendrix stehen für eine neue, aufregende Musik, mit der sich die Jugendlichen mehr identifizieren können als mit den kulturellen Vorlieben ihrer Eltern. Die Beatles sind zudem Hauptdarsteller in dem psychedelischen Zeichentrickfilm «Yellow Submarine» (1968, Regie: George Duning), für den der Graphiker Heinz Edelmann2 visuell verantwortlich zeichnet. Außerdem verkörpern die Liverpooler sich selber in innovativen Realfilmen wie «A Hard Day’s Night» («Yeah! Yeah! Yeah!», 1964) oder «Help!» («Hi-Hi-Hilfe!», 1965). Richard Lester, der Regisseur dieser Filme, ebnet mit schnellen Schnitten den Weg für das spätere MTV-Zeitalter. Die gegenseitige Beeinflussung von Popkultur, Musik und Jugendbewegung demonstriert zudem die schrille Mode der Sixties, die im «Swinging London» ihr Zentrum findet.
Den Zeitgeist zwischen Kaltem Krieg und sexueller Befreiung reflektiert derweil kongenial die James-Bond-Filmreihe, die ab 1962 über die Kinoleinwand rollt. Der Agenten-Kult strahlt wiederum in andere Medien aus. Für den DAILY EXPRESS entwickeln Peter O’Donnell (Text) und Jim Holdaway (Zeichnungen) 1963 den Comicstrip um «Modesty Blaise», eine Art weiblichen James Bond (O’Donnell war auch kurzzeitig an dem 1958–1966 von John McLusky für den DAILY EXPRESS gezeichneten Bond-Strip beteiligt). Joseph Losey verfilmt den Comic drei Jahre später («Modesty Blaise – die tödliche Lady»). Und der ebenso brillante wie innovationsfreudige Jim Steranko übernimmt 1966 von Jack Kirby den Marvel-Helden «Nick Fury, Agent of S.H.I.E.L.D.» und läßt darin meisterlich Pop-Art-Elemente einfließen, was eindrucksvoll demonstriert, wie die Pop-Revolution schließlich auch den Mainstream-Comic erreicht.
Auf dem Fernsehschirm tummeln sich unterdessen die Agenten von «The Man from U.N.C.L.E.»(«Solo für O.N.K.E.L.», 1964–1968) und das Spezialistenteam von «Mission Impossible» («Kobra, übernehmen Sie», 1966–1973). Insbesondere die letztgenannte Serie weist starke Parallelen zum Plot von «Bruno Brazil» auf, einer Comicserie, die ab dem 17. Januar 1967 auf den Seiten von TINTIN läuft (Text: Greg; Zeichnungen: William Vance). Eine weitere TV-Agentenserie ist «The Prisoner» (dt.: «Nummer Sechs», 1967–1968), die quasi die intellektuelle Antithese zu James Bond bildet. Diese rätselhafte, fast schon kafkaeske Serie kann zudem als Vorläufer von David Lynchs «Twin Peaks» (1990) gelten.
Bereits seit 1961 klären auch die «Avengers» («Mit Schirm, Charme und Melone») mysteriöse Kriminalfälle auf. Neben dem typisch britischem Humor und einem fernsehkompatiblen Surrealismus gelten als hervorstechendes Merkmal der Serie die fetischorientierten Lederoutfits von Emma Peel (in den 51 Folgen der 4. bis 6. Staffel Partnerin des melonetragenden John Steed). Die ebenso selbstbewußte wie kampfsporterprobte Emma kann obendrein als Beispiel für das veränderte Frauenbild der Sixties dienen. In der Folge «Der geflügelte Rächer» («The Winged Avenger», 1967) sind Peel (Diana Rigg) und John Steed (Patrick Macnee) einem mordenden Vogelwesen auf der Spur, was sie zu den Machern des fiktiven Comic-Superhelden «Winged Avenger» führt. Dabei wechseln Comic-Motive und eingeblendete Soundwörter («Pling!») mit den real gefilmten Szenen – ein Beispiel für die zahlreichen medialen und kulturellen Kreuzverweise, mit denen in dieser Zeit gerne gespielt wird.
Zudem demonstriert gerade diese «Avengers»-Folge den hippen camp-Status, den Comics bei Künstlern, Intellektuellen und Medienschaffenden inzwischen innehaben. Populärstes Beispiel dafür ist die knallbunte «Batman»-Fernsehserie, die der amerikanische Fernsehsender ABC von 1965 bis 1967 ausstrahlt. Zwar hat dieser Batman nicht viel mit dem düsteren Fledermaushelden gemein, den Bob Kane und Bill Finger einst erschaffen haben, doch die stark von der Pop Art beeinflußte Serie trifft genau den Nerv der Zeit und avanciert bei Jugendlichen, Studenten und Intellektuellen zur Kultserie. Massimo Moscati über die gegenseitige mediale Beeinflussung in dieser Zeit: «Die Jahre um 1965 brachten nicht nur die ersten Studentenunruhen und einen beschleunigten Verfallsprozeß der &Mac220;alten&Mac221; Kultur, es entstand auch eine Veränderung im Bereich der populären Kultur und insbesondere im Bereich der Comics. Sie waren nun nicht mehr eine Subkultur für Kinder und jugendliche &Mac220;Analphabeten&Mac221;, sondern wurden als ausdrucksstarkes Kunst-Medium entdeckt (...) Und genau in dieser Zeit geschieht es auch, daß das Kino auf diese Form der Massenkultur aufmerksam wird, und es entstehen Filme, die sich ganz ausdrücklich auf das gezeichnete Medium beziehen.»3
Neben Adaptionen von Comics stehen dafür Filme wie Jean-Luc Godards «Pierrot le Fou» («11 Uhr nachts», 1965), in dem Jean-Paul Belmondo einen enthusiastischen Fan der Comicserie «Les Pieds Nickelés» (1908–1940) spielt. Und in «How to Murder Your Wife» («Wie bringt man seine Frau um», 1964, Regie: Richard Quine) darf Jack Lemmon sogar einen Comiczeichner mimen (1972 spielte er nach dem Drehbuch von James Thurber in «Der Krieg zwischen Männern und Frauen» auch einen Cartoonisten). In «What’s New Pussycat» («Was gibt’s Neues, Pussy?», 1965, Regie: Clive Donner) drücken die Protagonisten ihre Gedanken in Comic-Sprechblasen aus, während in Streifen wie «La Congiuntura» («Auf eine ganz krumme Tour», 1964, Regie: Ettore Scola) demonstrativ Comics gelesen werden.

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