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COMIC!-JAHRBUCH 2015

Was haben elf telepathische Elefanten mit Star Trek zu tun?
Inside Webcomics

Von BJörn Hammel

Im Gespräch mit Harm Bengen, T Campbell, Pablo Defendini, Flix, Daniel Merlin Goodbrey, Daniel Lieske, Scott MCCloud, Ozge Samanci, Darren Wershler und Stevan Zivadinovic

Vom einfachen Scan einer gedruckten Vorlage bis zur technisch trickreichen Umsetzung für eine Smartphone-App: Comics im Internet haben eine enorme Verbreitung. Nicht zuletzt der häufig kostenlose Zugang und die Möglichkeit, sie weltweit und jederzeit über verschiedene Endgeräte abrufen zu können, führen bisweilen zu Zugriffszahlen, von denen auch der Autor der erfolgreichsten gedruckten Graphic Novel nur träumen kann. Die «Wormworld Saga» des Warendorfers Daniel Lieske beispielsweise konnte bis heute schon mehr als 2,2 Millionen Leser weltweit erreichen.
Die einzige seriöse Antwort auf die Frage, wie viele Webcomics es eigentlich gibt, lautet: viele. Das englischsprachige Verzeichnis «the webcomic list» verzeichnet mehr als 23.000 Profile. Beinahe 3.000 Cartoonisten aus über 130 Ländern präsentieren ihre Arbeiten auf «toonpool.com», einem sozialen Netzwerk für Cartoonisten, das 2007 vom deutschen Cartoonisten Bernd Pohlenz gegründet wurde. Immerhin über 360 Webcomics verzeichnet das deutschsprachige webcomic-verzeichnis.de.
Es ist also kein Wunder, daß Webcomics inzwischen auch in Deutschland ein Thema sind. U. a. eine Vortragsreihe der «Comic Solidarity» auf dem Internationalen Comic-Salon in Erlangen 2014, ein Vortrag der Webcomic-Zeichnerin Sarah Burrini an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf und mehrere Artikel aus den letzten drei Jahren im Comic!-Jahrbuch und im «Comic Report» belegen das ziemlich deutlich.
Den umfassendsten Überblick bietet bislang Max Vähling in seinem pointierten Artikel «Alte neue Möglichkeiten – das immer noch offene Versprechen der Webcomics» (siehe Literatur-Liste). Der Titel des Artikels liefert einen ersten Hinweis auf ein Grundproblem in der Auseinandersetzung mit Webcomics, den langen Schatten Scott McClouds. Sein wunderbarer Sachcomic «Comics neu erfinden», der das Potential der Digitalisierung von Comics kongenial auslotet, ist bereits 2001 erschienen. Bis heute aber wird die Bedeutung der Webcomics zumeist an der hohen Erwartungshaltung an die Möglichkeiten digitaler Comics gemessen, die McCloud in seinem Buch formuliert hat. Solange die Webcomics den Comic nicht endlich neu erfunden haben, so scheint es bisweilen, wird ihnen in der Fachliteratur keine Eigenständigkeit zugestanden. Dabei bieten schon die bloße Bindung an das Trägermedium Computer und die dadurch veränderte Rezeption ebenso interessante Fragestellungen wie die besonderen Möglichkeiten der digitalen Produktion und der Verbreitung im Internet. Und auch ohne die von McCloud erhofften revolutionären Veränderungen zeigt die Erweiterung der Formensprache den eigenständigen Charakter von Webcomics. Höchste Zeit also für einen systematischen Versuch, das Thema Webcomics auch aus wissenschaftlicher Perspektive zu strukturieren, sonst wird es unübersichtlich.1 Höchste Zeit auch für eine Abfrage unter Experten, die Webcomics veröffentlichen, ihre Ausdrucksmöglichkeiten erforschen oder einen wissenschaftlichen Blick auf sie geworfen haben: Wird überhaupt geforscht? Wenn ja, worüber? Wird experimentiert? Gibt es noch Neues zu entdecken? Wie sehen aktuelle Trends aus? Was machst du eigentlich gerade? Mit solchen Fragen bin ich an zehn Interviewpartner herangetreten. Die Schwerpunkte lagen dabei auf der Forschung, besonderen und konventionellen Comicformen im Internet sowie Trends und technischen Entwicklungen.


Webcomics in der Forschung

Obwohl Produktion, Vertriebsbedingungen und besondere Ausdrucksformen der Webcomics zahlreiche interessante Fragestellungen bieten, existieren bislang nur wenige Artikel, die sich dem Thema exklusiv und mit wissenschaftlichem Anspruch nähern. Lars Banhold und Daniel Freis beleuchten Medienästhetik, Distribution und medialen Kontext der Webcomics, Ramón Reichert skizziert Ansätze einer Typologie, Jakob F. Dittmar versucht sich an einer Abgrenzung der Webcomics von den digitalen Comics und Sean Fenty et. al. sehen kulturpolitische Parallelen zwischen Webcomics und amerikanischen Underground-Comics. Viel weiter ließe sich diese Auflistung nicht fortsetzen.
Darren Wershler, Professor an der Concordia University in Montréal, ist jedoch davon überzeugt, daß Webcomics «für sich genommen schon zu einem riesigen Forschungsgebiet werden». Er sieht eine Reihe grundsätzlicher Herausforderungen, die die Untersuchung digitaler Comics birgt. Das gilt vor allem für die Geschichte digitaler Comics, die seiner Auffassung nach schon lange vor dem Internet begonnen hat: «Sowohl die Programme, in die frühe digitale Comics eingebunden waren, als auch die Apparate, auf denen sie liefen, sind schon lange nicht mehr in Gebrauch. Das bedeutet, so etwas wie Matthew Kirschbaums &Mac220;digitale Forensik&Mac221; oder die &Mac220;Medienarchäologie&Mac221; von Wolfgang Ernst und Lori Emerson wären zunächst einmal eine Voraussetzung dafür, digitale Comics überhaupt zu einem Forschungsobjekt erheben zu können».
Wie tief medienarchäologisch gegraben werden muß, um die digitale Trajansäule zu finden, bleibt vorerst offen. Daß sich Webcomics zunächst als historisches Forschungsobjekt konturieren, steht aber bereits seit 2006 fest. Da erschien das bis heute einzige Buch über Webcomics, das einen wissenschaftlichen Charakter besitzt: «The History of Webcomics». Sein Verfasser, der amerikanische Webcomic-Autor T Campbell, hat eine ziemlich genaue Vorstellung davon, warum auch heute, acht Jahre später, Webcomics den Weg in die Wissenschaften noch nicht gefunden haben: «Ein Teil des Problems besteht darin, daß einige kluge Köpfe gar keine Unterscheidung zwischen &Mac220;Webcomics&Mac221; und dem umfassenderen Gebiet der &Mac220;Comics&Mac221; vornehmen möchten. Beide Standpunkte haben ihre Vorteile und verfolgen bestimmte Interessen. Für Mark Waid ist es z. B. wichtig, seine erfolgreiche Tätigkeit als Herausgeber gedruckter Comics ein wenig von dem abzugrenzen, womit er sich auf Thrillbent (thrillbent.com) beschäftigt. Andere Künstler, deren Webcomics inzwischen in gedruckten Fassungen auch den breiten Markt bedienen, versprechen sich wiederum Vorteile davon, diese Unterscheidung aufzuweichen. Darüber hinaus habe ich das Gefühl, daß die akademische Welt immer noch nicht ganz akzeptieren kann, daß Comics es überhaupt wert sind, sich mit ihnen auseinanderzusetzen.»
Tatsächlich ist bis auf die oben erwähnten Artikel bis heute nicht besonders viel passiert. «Ein paar Jahre nach der Veröffentlichung von &Mac220;Reinventing Comics&Mac221; habe ich eine leicht überarbeitete Zusammenfassung der Infinite-Canvas-Idee veröffentlicht», faßt Scott McCloud seine Aktivitäten in diesem Bereich zusammen. Darren Wershler untersucht gemeinsam mit Kalervo Sinervo, Shannon Tien, Max Stein und Deanna Fong immerhin schon seit einigen Jahren Produktion, Verbreitung und Kauf unerlaubter digitaler Comic-Kopien: «Hochwertige Scanner, preiswerte Massenspeicher, Peer-to-Peer-Netzwerke und Heimnetzwerke mit hoher Bandbreite haben gemeinsam zu einem nicht autorisierten Angebot an Comicheften und Comicalben im Internet geführt». Kein leichtes Unterfangen, denn «wie soll sich ein Wissenschaftler einem solchen Untersuchungsobjekt überhaupt annähern? Ist eine Sammlung digitaler Comic-Scans überhaupt ein Archiv im traditionellen Sinn? Wie untersuchen wir, auf welche Art und Weise Comics in Umlauf gebracht werden, wenn kaum Aufzeichnungen über diese Aktivitäten existieren? Und welche moralischen Fragen stellen sich bei der Untersuchung von Objekten, die es ohne eine Verletzung der Urheberrechte gar nicht gäbe und die in den meisten Bibliotheken nicht einmal vorhanden sind?», formuliert Wershler einige der Fragen, die ihn und sein Team beschäftigen. Aus dieser Beschäftigung entstehen unter anderem ein Kapitel über die Geschichte digitaler Comics für das Buch «A Global History of Comics» und ein Aufsatz über Marvels Motion Comics für das Buch «Making Marvel». An Wershler liegt es also mit Sicherheit nicht, daß digitale Comics bislang in der Forschung nur geringen Widerhall finden.

Auf den Geschmack gekommen?
Weiterlesen im COMIC!-Jahrbuch 2015
Links zum Artikel

webcomic-verzeichnis.de
mycomics.de
thrillbent.com
Harm Bengen auf web.de
Kwimbi,
toonpool.com


Literatur

Defendini, Pablo: «Adaptive Webdesign». www.you tube.com/watch?v=f3WXEgPU1zc
Horang: «Bongcheon-Dong Ghost». comic.naver. com/webtoon/detail.nhn?titleId=350217&no= 31&weekday=tue
Samanci, Ozge/Chen, Yanfeng/Mazalek, Ali: «Embodied Comics: Reinventing Comics and Animation for a Digital Performance». Abstract: dm.lmc.gatech.edu/~osamanci/tangiblecomics/ abstract.htm
Vähling, Max: «Alte neue Möglichkeiten. Das immer noch offene Versprechen der Webcomics». In: Ihme, Burkhard (Hg.): Comic!-Jahrbuch 2013. Stuttgart. 2012. S. 62–66. (Leseprobe)


Harm Bengen
www.harmbengen.de

T Campbell
guildedage.net
Lieblings-Webcomic: «Dumbing of Age» von David Willis (www.dumbingofage.com)

Pablo Defendini
www.defendini.com
Lieblings-Webcomics: Vor allem «Questionable Content» von Jeph Jacques (www.questionable content.net), gleich dahinter kommt «XKCD» von Randall Munroe (www.xkcd.com).

Flix
www.der-flix.de
Lieblings-Webcomic: «Schisslaweng» von Marvin Clifford (www.schisslaweng.net)

Daniel Merlin Goodbrey
www.e-merl.com
Lieblings-Webcomic: «Guilded Age» von T Campbell, Phil Kahn, John & Jason Waltrip (guilded age.net)

Daniel Lieske
www.wormworldsaga.com und www.daniellieske.com
Lieblings-Webcomic: «The Dreamland Chronicles» von Scott Christian Sava, (www.thedream landchronicles.com)

Scott McCloud
www.scottmccloud.com
Lieblings-Webcomic: «Ich habe nicht nur einen Lieblings-Webcomic, interessiere mich aber für die Arbeiten von Daniel Merlin Goodbrey (www.e-merl.com/hypercomics).»

Ozge Samanci
www.ordinarycomics.com und www.ozgesamanci.com
Lieblings-Webcomic: «Idiogenetic Machine», kein Webcomic, sondern ein Beispiel für einen digitalen Comic (www.vimeo.com/30341877).

Darren Wershler
www.alienated.net
Lieblings-Webcomic: «XKCD» von Randall Munroe (www.xkcd.com)

Stevan Zivadinovic
www.hobolobo.net
Lieblings-Webcomic: «Vattu» von Evan Dahm (www.rice-boy.com/vattu)
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