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COMIC!-JAHRBUCH 2013

Die schwarze Alben-Pest
Eine notwendige Abrechnung mit dem französischen «Autoren-Comic» der vergangenen Dekade


Von Wolfgang Höhne


Es geht ein Gespenst um auf dem frankobelgischen Comic-Markt, oder vielleicht sollte man eher sagen: eine Seuche, die sich seit nunmehr über zehn Jahren schleichend ausgebreitet hat und sich inzwischen von den Neuheitentischen über die Regale der Händler bis hinab zu den Ramschbuden hindurchgefressen hat. Und wenn man, so wie ich, den französischsprachigen Autorencomic hierzulande stets aus vollster Überzeugung propagiert hat, dann fällt es nicht gerade leicht, das nun Folgende zu schreiben.

Das Phänomen kam schleichend. Man steht im Gebrauchtladen in Brüssel und arbeitet sich systematisch durch die Kästen mit den Comics durch, auf der Suche nach irgendwas Gutem oder Interessantem. Und irgendwann fällt einem auf, daß man in den letzten Jahren zunehmend mehr Alben umklappen mußte, bis mal endlich wieder etwas kam, das wenigstens ansatzweise einen Blick wert war. Schließlich zwingt man sich und schaut mal genauer hin, was das eigentlich ist, das sich da heimlich, still und leise so massenhaft in den Kästen angesammelt hat. Und entsetzt stellt man fest: Die Sachen sind noch viel schlechter, als man es in seinen schlimmsten Befürchtungen erwartet hatte. Eine nie da gewesene Schwemme von Schrottalben, die man im einzelnen noch nie so recht wahrgenommen hatte. Die Alben sind meist relativ neu, erst wenige Jahre, ja manchmal gar nur wenige Monate alt. Und sie sind meistens neuwertig, also ungelesen, und werden dennoch höchst offiziell verramscht, während sie teilweise sogar noch nach Druckfarbe riechen. Derartiges hat es in den Neunzigern nicht gegeben. Man kommt nicht umhin festzustellen: Der Gebrauchtmarkt ist heute völlig anders strukturiert als vor der Jahrhundertwende, als noch vor allem die auflagenstarken Klassiker der sogenannten Marcinelle-Schule aus Charleroi sämtliche Comic-Wühlkisten zwischen Brüssel und Biarritz beherrschten.
Das Phänomen, das seit etwa zehn Jahren zunehmend zum Problem für den Handel wird, hat auch einen Namen: Es sind die sogenannten «Schwarzrücken» (dos noir); so nennt man in Händlerkreisen die großformatigen Alben der Verlage Soleil, Humanos, Delcourt, Nucléa und Glénat, die im Gegensatz zu den Alben der klassischen Verlage Lombard, Dupuis oder Casterman fast allesamt nur schwarze Buchrücken haben. Und bei der wundersamen und massenhaften Verbreitung dieser Schwarzrücken schien es lange Zeit überhaupt kein Halten mehr zu geben. Die Händler klagen bitter über die «schwarze Albenpest», wie sie sie inzwischen nennen. Kein Wunder: Die schwarze Masse blockiert ihnen im Laden eine komplette Regalwand an Stellfläche und sie «liegt wie Blei». Niemand will die Alben haben, trotz Hochglanzeffekt, trotz Überformat, trotz günstiger Preise. Der Grund ist schnell und plausibel erklärt: Bei all diesen Comics handelt es sich um Serienbruchstücke, bei denen völlig klar ist, daß sie niemals abgeschlossen werden, weil der Verlag die Serie schon längst wieder sang- und klanglos eingestellt hat. Warum also sollte jemand so etwas kaufen? Eine angefangene Mega-Saga, großspurig angelegt auf meist unzählige Bände, die wie üblich kaum über das erste Kapitel hinausgekommen ist. Und so landen die «Schwarzen» dann folgerichtig in den Ramschläden, bei den Kistenschiebern, wo sie dann, oft kaum ein bis zwei Jahre nach ihrem Erscheinen, nahe ihres Heizwertes zu zig Tausenden ab Verlagslager verhökert werden. Es ist ein Bild des Jammers!
Gewiß, auch in der berüchtigten Ära des «Goldenen Zeitalters» der 1970er Jahre war natürlich nicht alles Gold, was sich da so als Hardcover gebunden in den Comic-Regalen präsentierte. Eine ganze Armada von sogenannten B-Serien, und auch solche, bei denen einem die Bezeichnung «B-Serie» nur gequält über die Lippen kam (und für die man eigentliche gerne den Begriff der «C-Serie» eingeführt hätte), haben sich munter in den Verlagsprogrammen der «Großen» getummelt. Dennoch blieb dabei immer eine gewisse Mindestqualität gewahrt. Richtig miese Comic-Alben gab es nicht; sie blieben im «Filter» der damals noch allgemein üblichen Vorveröffentlichung in den Comicmagazinen hängen und kamen nicht als Album auf den Markt. Doch das war einmal. War nun früher aber wirklich alles besser? Oder unterliegt man hier nicht dem üblichen Irrtum, diejenigen Comics, die man einst als Kind so faszinierend gefunden hatte, maßlos überzubewerten? Nicht ganz! Auch wenn die Geschichten damals oft sehr einfach und direkt waren, man hatte (und hat bei diesen Klassikern noch immer) das gute Gefühl, eine ordentliche, einigermaßen sauber durchkomponierte und fehlerfreie Arbeit präsentiert zu bekommen.
Genau diese «Mindestgarantie» bezüglich der Qualität der Geschichten, die es bei den alten großen Comicverlagen gegeben hat, ist bei den «Schwarzrücken», die hier im Folgenden genauer betrachtet werden sollen, restlos dahin.


Die Geschichten

Auch hinter den amerikanischen Superhelden-Comics standen einstmals Autoren, die neben allen finanziellen und sonstigen Interessen ganz einfach Freude daran hatten, etwas zu machen, daß von zigtausend Kindern gelesen wird. Davon kann schon lange keine Rede mehr sein. Schon längst entscheidet ein Team von Marketingpsychologen darüber, ob Superman seinen Gegner nun besiegt oder ihm unterliegt, wie intim er mit seiner Lois wird oder ob er mal wieder gerade vorübergehend stirbt. Einen Autor im eigentlichen Sinne gab es bei den meisten dieser großen US-Serien schon lange nicht mehr. Genau dagegen hat sich der frankobelgische Autoren-Comic immer positiv abgehoben – oder besser gesagt: hatte.
Der Wunsch, dem Leser ein gutes, sauber durchkomponiertes Album zu präsentieren, scheint heute oftmals überhaupt nicht mehr vorhanden zu sein. Es geht von vornherein nur noch darum, irgend etwas zusammenzuschustern, das den Kunden beim Anblättern im Laden irgendwie ködert; sonst nichts. Ein «guter» Comic, das ist einer, der sich gut verkauft; alle andere Kriterien sind nach und nach hinten runtergefallen und inzwischen schlicht nicht mehr vorhanden. Es ist, vor allem den bereits weiter oben genannten Verlagen, schnurz und piepe, wie miserabel und unlogisch die Geschichten aufgebaut sind, wie schlampig recherchiert oder schlicht falsch die Zeichnungen sind, wie gepfuscht die Computerfärbung getätigt ist, bei der einfach nur in jede Fläche ohne Sinn und Verstand ein Helligkeitsverlauf reingeknallt wird. Solange das bestellte Autorenteam es schafft, die Leser mit genügend dummdreisten Zoten, Titten oder sonstigen Unflätigkeiten bei der Stange zu halten, haben wir es offiziell mit einem «guten Comic» zu tun – Punkt aus! «Schlecht» wird der zuvor so hochgelobte Comic plötzlich dann, wenn er sich nicht mehr verkauft – und das ist meistens der Fall.

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