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COMIC!-JAHRBUCH 2012

Sonderpreis der Jury für eine bemerkenswerte Comicpublikation:
JAZAM! 5
Porträt und Interview mit den Herausgebern

Von Achim Schnurrer


Nächtliches Nachbeben

«Märchen» und «Monster», «Götter» und «Zeit»: Dazu hat jeder was zu sagen. Jedenfalls jeder, für dessen Hirninhalt ein handelsüblicher USB-Stick nicht mehr ausreicht. Ist das dann eine gute Voraussetzung, um es auch mal mit einem Thema zu versuchen, zu dem selbst Scheintote etwas zum Besten geben können? Um im Bild zu bleiben, also all jene, deren Mentalinhalt auch auf eine 1,44-MB-Diskette abspeicherbar wäre, und bei der sich dann ganz beiläufig feststellen ließe, daß immer noch genug Platz drauf ist. In Bulgarien und Simbabwe sollen diese Dinger ja noch im Einsatz sein.
Jedenfalls schien erst einmal Skepsis angebracht, als die Künstler der 2010-Ausgabe von JAZAM! aufgefordert wurden, Beiträge zum Thema «Nachtleben» einzureichen. Und der flüchtige Eindruck nach einem ersten, raschen Durchblättern entkräftete die Vorbehalte auch noch nicht: Disco, Party, Vampire.
Fällt denen denn gar nichts mehr ein? Kündigte sich da eine Enttäuschung an? Um es vorwegzunehmen: Keineswegs. Und soviel Vertrauen verdient auch die ICOM-Jury. Sie zeichnet keine belanglosen Werke aus.
Auftrag: Einfach mal aufschlagen und ein paar Beiträgen die Chance einer näheren Betrachtung geben. Den Anfang machten die «Nachtschattengedanken» – eine zwanzig Seiten lange Kneipenszene, in der sich zwei Zeichnerinnen (Maike Plenzke und Greta) mit einem Kollegen (Martin Rathscheck) über dies und das und das Leben sowieso unterhalten, umrahmt von losem Kneipenvolk, das die Klammer der Story bildet und von Sebastian Koch und Moritz Stetter festgehalten wurde. So begegnen sich die in einer losen, aus drei Perspektiven erzählten und in völlig unterschiedlichen Stilen gezeichneten Erlebnisse der drei Protagonisten. Das wirkt mitunter skizzenhaft, springt mal hierhin und dorthin und entspricht genau der Art, wie sich Leute unterhalten. Etwas atemlos und abgehackt erzählen sich die drei beim Bier, was bei ihnen in der letzten Zeit, in der sie sich nicht gesehen haben, jeweils abgelaufen ist. Diese Form der Schilderung setzt weder auf sonderlich spektakuläre Effekte noch auf jene Form von Übertreibung und Aufgeregtheit, mit der in unserer Medienwirklichkeit, die ja nolens volens auf den Umgang untereinander abfärbt, Alltagsfürze zu weltbewegenden Ereignissen aufgebläht werden. Wer kennt sie nicht, die «Cool»- und «Genial»-Anmerkungen, mit denen Gesprächspartner – meist völlig ironiefrei – die Banalitäten des anderen kommentieren, die man nebenbei gesagt schon Sekunden später völlig zurecht wieder vergessen hat. In solch nebensächlichen Details blüht der Niederschlag von Krawall-Shows und Boulevard-Aufmachern, denen ja nur entgehen kann, wer sich dauerhaft in ein Tuareg-Zelt in der Sahara zurückzieht, im privaten Alltag wieder auf.
Damit zurück zu den «Nachtschattengedanken», in denen es dem ZeichnerInnen-Team gelingt, packende Geschichten zu erzählen, dem Einfachen und Normalen spannende Seiten abzugewinnen. Zudem ist das Gemeinschaftswerk toll in Szene gesetzt, sowohl von der Story her wie auch von der grafischen Umsetzung. Weshalb allein dieser Beitrag die Anschaffung der Anthologie lohnenswert macht.
Doch JAZAM! 5 bietet noch mehr.
Zum Beispiel die Geschichte des schlechtesten DJs der Welt, der ungeachtet seiner noch nicht einmal rudimentär erahnbaren Musikalität zugleich zum erfolgreichsten DJ der Welt avanciert. Ein von Bastian «Lapinot» Baier in einem unaufdringlichen, der Story absolut angemessenen Stil umgesetztes Lehrstück in Sachen Karriereplanung, das mit leisem Sarkasmus viel erklärt. Weit über den Job des Plattendrehers hinaus läßt sich die verblüffende und verblüffend einfache Botschaft dieses Comics auf jene Berufe übertragen, für die Referenzen wichtig sind. Also auf nahezu alle.
Hübsch lustig ist das.
Und da es sich bei den Zeichnerinnen und Zeichnern der Beiträge in JAZAM! überwiegend um jüngere Semester handelt, dürfte auch die Zielgruppe dieser Altersstufe angehören und mithin für Tips, wie die von Lapinot, empfänglich sein.
Dirk Erik Schulz beweist mit seinem Beitrag «Geistige Umnachtung», daß sich auch die Mittel des klassischen Underground-Comix nahtlos in ein ultramodernes Thema integrieren lassen. Auf die wie üblich späte, viel zu späte Erkenntnis, den Großteil des Lebens in den virtuellen Räumen der vernetzten Computerwelt vergeudet zu haben, gibt es nur eine konsequente Antwort. Aber das ist eine Pointe, die ich mir an dieser Stelle verkneife. Seht selbst!
Da kann man sich glatt die Frage stellen, liest der digital native überhaupt Comics? Wenn ja, dann wohl solche über Nachtleben und Nachtgedanken. Das legt jedenfalls eine fein- um nicht zu sagen hintersinnige Illustration im Galerieteil von JAZAM! 5 nahe. Ihr Schöpfer ist ein gewisser Antonio Radovcic, der auf seiner Website sinngemäß von sich sagt, daß er nichts tun muß. Das klingt in seinem englischen Blog natürlich um einiges wohlfeiler. Die Polizei wird nicht seine Wohnungstür aufbrechen, wenn er mal nicht tut, von dem er meint, er müsse es tun. Da bremst offensichtlich jemand seinen Koffeintrip aus. Weil Radovcic aber dessen ungeachtet für seine 26 Jahre schon viel getan hat, sei hier noch verraten, daß sich in seinem Portfolio u. a. ein paar durchaus sehenswerte Porträts finden lassen: radovcic.net.
JAZAM! ist ein anschauliches Beispiel dafür, daß die heutigen Fanzines kaum noch was mit den selbstgetackerten Heftchen zu tun haben, die in vordigitalen Zeiten verbreitet waren. Mal abgesehen davon, daß die Arbeiten der aktuell aktiven Szene hauptsächlich im Internet zu finden sind, liegen Welten zwischen den Old-school-Produktionen der Jahre vor dem Millenniumswechsel und den nicht selten voluminösen Bänden, die heute als Fanzines herausgegeben werden. Dieser Begriff scheint mir bei JAZAM! kaum noch angebracht zu sein. Anthologie ist wohl die passendere Bezeichnung, obwohl die Wurzeln in der anarchischen Kultur der Fanzine-Macher früherer Jahre durchaus noch sichtbar sind und nicht geleugnet werden.
Noch zwei Lese-Erlebnisse kondensiert in je ein Wort. Die Titel: «Frustrationsmann & Verzweiflungsjunge in Mond und Sterne» von Henning Basler, gefolgt von Tim Eckhorsts Fernfahrertristesse «Irgendwo im Nirgendwo». Deftig – abgefahren.
Das gebotene Spektrum überzeugt also bei näherer Betrachtung und bietet genügend kurzweiligen Stoff für Augen und Hirn, sodaß der anfänglich arg skeptische Betrachter nach und nach alle Beiträge gelesen und noch so manche kleine Perle entdeckt hat. Weshalb an dieser Stelle ausdrücklich vermerkt werden soll, daß JAZAM! mehr als nur ein flüchtiges Anblättern verdient! Vor allem aber macht die Anthologie in zweierlei Hinsicht neugierig. Und das ist das Beste, was eine Sammlung wie diese leisten kann. Nämlich neugierig auf weitere Bände zu machen und neugierig darauf, was viele der in «Nachtleben» vertretenen Künstler sonst noch zu bieten haben. Der Blick in den Anhang, in dem alle Zuträger kurz vorgestellt werden, liefert neben Hinweisen auf die Werdegänge wie gezeigt auch Links zu weiteren Arbeiten und individuellen Infos. Ich würde mir wünschen, daß JAZAM! auch in Verlagen, Agenturen und von Veranstaltern gelesen wird. Die Zeiten für Comics heimischer Produktion mögen in Deutschland schwierig sein (war das eigentlich irgendwann einmal nicht der Fall?), die junge Szene läßt sich indes in ihrem Tatendrang davon überhaupt nicht abschrecken. Gut so!


COMIC!: Wie ist das Projekt JAZAM! entstanden und wart ihr von Anfang an die gleiche Herausgebergruppe?

Adrian vom Baur: Am Anfang bestand die Redaktion aus David Koslowski, Nico Simon und mir. Wir kannten uns über den Künstlerbereich von Comicforum.de und hatten schon an ein paar Comic-Jam-Projekten zusammengearbeitet. Da wir zum besagten Zeitpunkt alle gerne endlich eine Print-Veröffentlichung wollten, bei anderen Anthologien aber nur Absagen geerntet hatten, haben wir beschlossen, selbst etwas auf die Beine zu stellen. Über das Internet kannten wir eine Menge anderer Comic-Zeichner, die wir gerne dabeihaben wollten, und dank des damals noch recht neuen Digitaldruck-Verfahrens war auch der Druck in kleinen Auflagen einigermaßen erschwinglich. Das Projekt traf eigentlich sofort auf sehr positive Resonanz, weswegen wir den ersten Band innerhalb weniger Monate fertigstellen konnten und uns im Anschluß sofort an die zweite Ausgabe gemacht haben. Zur dritten Ausgabe sind dann noch Veronika Mischitz und Florian Steinl als weitere Redakteure an Bord gekommen.

COMIC!: Zur Themenfindung: Gibt es ein übergreifendes Konzept, und wie entstehen die thematischen Vorgaben?

Adrian vom Baur: Das Thema wird bereits von Anfang an durch eine Abstimmung im Internet entschieden. Meistens entwickeln wir innerhalb der Redaktion einige Vorschläge und sammeln dann im Comicforum weitere Ideen von Fans und den mitwirkenden Künstlern. Über die beliebtesten Vorschläge wird dann ganz basisdemokratisch abgestimmt.
Das übergreifende Konzept ist eigentlich einfach, Comics von möglichst vielen interessanten Comiczeichnern in einem Buch zu versammeln. Die Themenvorgaben helfen dabei, einen roten Faden zu liefern und neue Ausgaben spannend zu halten.

Nico Simon: Dennoch haben wir mit Ausgabe 6 versucht, unser Konzept, das zuvor aus Ein-Wort-Themen bestand, etwas umzugestalten und haben auch vor, in Zukunft neue Ansätze zu verfolgen.

COMIC!: Werden die Themen von euch einfach in irgendwelchen Foren kommuniziert und ihr wartet auf das Feedback der Künstler, oder sucht ihr euch eure Wunschzeichner auch gezielt aus?

Adrian vom Baur: Nach der Abstimmung über das Thema geben wir die Teilnahmebedingungen auf verschiedenen Plattformen im Internet bekannt und warten dann einfach ab, welche Künstler sich bei uns melden. Zu den Internet-Plattformen zählt der offizielle JAZAM!-Blog, das Comicforum, Facebook und Twitter. In Einzelfällen sprechen wir aber auch gezielt Künstler an, die wir gerne dabeihaben wollen.

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Burkhard Ihme (Hrsg.)
November 2010
248 Seiten S/W und 4c
EUR 15,25
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