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COMIC!-JAHRBUCH 2012

Der US-Comicmarkt 2011
von Stefan Pannor

Von Stefan Pannor


1. Dein letztes Jubiläum, Superman

Es war ein in inhaltlicher Hinsicht schwaches Jubiläum – die im April dieses Jahres erschienene neunhundertste Ausgabe von ACTION COMICS. Die Serie, Geburtsort der Figur Superman, ist das Flaggschiff der Superhelden-Publikationen schlechthin und erscheint ununterbrochen seit 1938. Kern des hundert Seiten starken Heftes bildete ein überlanger Kampf von Superman gegen Lex Luthor, der gerade gottgleiche Kräfte erlangt hatte und wohl darum als Wolke im All schwebte. Nun ja. Enthalten war auch ein Auszug aus dem originalen Skript des ersten Superman-Kinofilms von Richard Donner (nichts Neues also), jeweils eine Kurzgeschichte von «Lost»-Erfinder Damon Lindelof und eine des aktuell erfolgreichsten amerikanischen Comicautors Geoff Johns. Unterm Strich wenig, was wirklich für Aufsehen sorgen konnte, außer bei der wak-keren Schar strammer ACTION COMICS-Käufer, die die Serie zuletzt irgendwo im Bereich der 30 Tausend verkaufen Exemplare gehalten hatten.
Aber dann war da noch eine Kurzgeschichte von David Goyer. Der hatte in den Neunzigerjahren kurzzeitig ein paar DC-Serien verfaßt, ehe er in die Filmbranche wechselte und u. a. am Drehbuch von «Batman Begins» beteiligt war, dem überaus erfolgreichen Neustart des Batman-Franchise fürs Kino. «The Incident» hieß die Kurzgeschichte, und sie schilderte tatsächlich nicht mehr als einen Zwischenfall: Superman trifft sich mit einem Vertreter der amerikanischen Regierung und erklärt, er habe vor, seine amerikanische Staatsbürgerschaft abzulegen. «Ich bin es leid, meine Taten als Instrument der US-Politik gewertet zu sehen», begründet er sein Handeln, und «Die Welt ist zu klein. Alles hängt zu sehr zusammen».
Möglicherweise waren es die falschen Worte zur richtigen Zeit: Superman, dessen Credo jahrzehntelang «for truth, justice and the american way», für Wahrheit, Gerechtigkeit und die amerikanische Lebensart, gewesen war, verabschiedete sich mit diesem Monolog zumindest vom letzten Drittel seines Wahlspruchs. Und das sorgte für Ärger.
Denn obwohl kaum noch jemand Superheldencomics liest, scheinen ihre Existenz und ihr Aussehen entscheidend zumindest für die amerikanischen Medien zu sein. Bereits als im Sommer 2010 Wonder Woman einem Kostümwechsel unterzogen wurde, der die traditionellen weißen Sterne auf blauem Grund, Kernsymbol der US-Flagge, entsorgte, machte dieser Wechsel landesweit Schlagzeilen.
Aufgegriffen vom konservativen Nachrichtensender Fox News, bescherte die Geschichte DC Comics einen Shitstorm noch nicht erlebten Ausmaßes. Während sich die traditionellen Medien mit Wertungen zurückhielten und einige wenige sich sogar in fanboy-typischen Debatten darüber übten, ob Superman überhaupt je US-Bürger war («But since he was not technically born in the United States – and since his adoptive parents did not legally adopt him – he could be considered an illegal immigrant anyway» schrieb die australische Herald Sun), liefen insbesondere Künstler und Fans Amok.
Ein Eintrag auf dem amerikanischen Comicblog Comics Alliance verzeichnete innerhalb weniger Stunden mehr als achthundert Kommentare, innerhalb der folgenden Tage insgesamt mehr als zweitausend. Die Äußerungen reichten von bizarr («Geh doch nach Krypton!») über äußerst bizarr («Superman braucht einen Kryptonit-Einlauf») bis hin zu den unvermeidlichen Boykott-Aufrufen. Die allerdings eher versandeten: Die Facebook-Seite «Boycott DC Comics» brachte es auf grade mal 16 Mitglieder.
Interessanter waren die Reaktionen aus dem Künstlerlager. Während traditionell liberale Autoren wie Ed Brubaker und Kurt Busiek (letzterer langjähriger «Superman»-Schreiber) es als Gelegenheit für Gags und Flapsigkeiten nahmen, empfahl Ethan van Sciver, immerhin selbst hauptsächlich als Zeichner für DC tätig (u. a «The Flash») eine Mailkampagne, um DC aufzufordern, daß Superman eine amerikanische Flagge zu tragen habe. «Laßt die Redakteure wissen, daß Superman eine amerikanische Ikone ist», beendete er seinen Aufruf. Und Dan Lawlis, der in den Achtziger- und Neunzigerjahren vorrangig als Zeichner für Marvel tätig war, fragte: «Gibt es noch einen Zweifel, daß die amerikanische Comicindustrie von gottlosen antiamerikanischen Linksextremisten beherrscht wird?»
Kommerziell hat sich der Aufruhr – in den sich schlußendlich auch der zu dem Zeitpunkt potentielle amerikanische Präsidentschaftskandidat Mike Huckabee mit einer wirren Argumentation darüber einmischte, daß jeder, der Amerika ablehne, Freiheit und Demokratie ablehne – jedenfalls gelohnt. 73.000 abgesetzte Exemplare, mehr als das Doppelte der üblichen Menge, meldete der US-Vertrieb Diamond, darin inbegriffen eine notwendig gewordene Zweitauflage. Daß der ganze Aufruhr umsonst war, bewies das vierzehn Tage später erschienene «Superman» #711. Verfaßt weitgehend von Autor Chris Roberson, zeigt es Superman, der in Las Vegas sichtlich beeindruckt vom Glamour der Stadt einen Monolog darüber hält, wie großartig die USA als Land sind, die selbst einem illegalen Einwanderer wie ihm eine Chance geben. Verkaufszahlen hier: 38.000, wahrgenommen hat es außer den Fans wohl niemand.
Hätten die Nachrichtensender, die Zeitungen und Zeitschriften, Blogger und Forenposter gewußt, daß es sich hierbei um das letzte große Jubiläum der Comicserie handelte, hätten sie dann anders reagiert? Tatsache jedenfalls ist, daß nach aktuellem Ermessen keine Nummer 1.000 von ACTION COMICS mehr erscheinen wird (die sonst in knapp acht Jahren fällig gewesen wäre). Denn DC Comics stellen ihr gesamtes Superhelden-Programm um, und wie sämtliche anderen Titel auch beginnt ACTION COMICS wieder bei einer Nummer 1 – das erste Mal seit 1938. ACTION COMICS #900, das Heft, in dem sich Superman von seiner amerikanischen Staatsbürgerschaft verabschiedet, war im Grunde nur ein Prolog für den umfassenden inhaltlichen und geschäftlichen Wandel, den DC Comics ab September 2011 einleiten möchte.


2. DC macht alles neu. Und digital

«Comics», das hatte vor einigen Jahren schon der Zyniker Frank Miller gesagt, «sind inzwischen doppelt so teuer wie ein nuklearer Sprengsatz – und machen nur noch halb so viel Spaß.» Das bekommt der US-Comicmarkt immer stärker zu spüren: Ein Comicheft kostet im Durchschnitt inzwischen 3,30 $, Tendenz steigend. Das Vergnügen dafür wird immer kürzer: Um den Preis von 2,99$ wenigstens bei den Kernserien halten zu können, hat DC in diesem Jahr die Zahl der Comicseiten pro Heft von 22 auf 20 reduziert. Während DC die Ankündigung der Kürzungen wenigstens öffentlich machte, kürzt Marvel scheinbar nach Belieben. Zuletzt mehrten sich Hefte, die 20 oder sogar nur 19 Comicseiten hatten, zum vollen Preis von 3,99 $.
Der schrumpfende Comicanteil der sowieso schon dünnen Hefte ist Ausdruck einer Krise, die 2010/2011 den amerikanischen Comicmarkt mit Wucht erfaßt hat. In den vergangenen Jahren war klar: Es gibt wenigstens fünf, in guten Monaten auch mal zehn Titel, die mehr als 100.000 Exemplare absetzen. Selbst das war bereits bescheiden gedacht, relativ zu den Absatzzahlen der Comic-Spekulationsblase Mitte der Neunzigerjahre, als einzelne Titel bis zur Millionengrenze vorstießen.
Von der Jahresmitte 2010 bis zur Jahresmitte 2011 gab es fünf Monate in denen es kein einziger Titel geschafft hat, mehr als 100.000 Vorbesteller zu finden. Die Leserschaft bröckelt, und sie bröckelt, wie ein genaues Studium der Zahlen zeigt, nicht so sehr bei den Indie-Verlagen, die ihre Absätze weitgehend stabil halten konnten, sondern bei Marvel und DC, die sich die Spitzenpositionen teilen und derzeit beinahe schon mit heruntergelassener Hose dastehen: 55.000 Exemplare setzte DC im Mai 2011 von «Batman» in die Shops ab, nur wenige hundert Hefte mehr Marvel von «Amazing Spider-Man». Die bestverkaufte fortlaufende Superheldenserie zu dem Zeitpunkt war ausgerechnet «Green Lantern», ein Titel, der vor einigen Jahren noch als sturzlangweiliger Altherrencomic galt, mit für nordamerikanische Dimensionen sparsamen 75.000 Exemplaren, befeuert vom Beinahe-Erfolg des parallel grandios gefloppten Kinofilms. (Bestverkauftes Heft war in diesem Monat der zweite Teil der Marvel-Miniserie «Fear Itself» mit 96.000 Exemplaren.)

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Burkhard Ihme (Hrsg.)
November 2010
248 Seiten S/W und 4c
EUR 15,25
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