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COMIC!-JAHRBUCH 2011

Herausragendes Szenario:
«drüben!» von Simon Schwartz

Interview von Britta Keutgen und Felix Giesa

«Für meine Eltern» findet sich als Widmung in Simon Schwartz‘ Comic «drüben!». Und tatsächlich ist es die Geschichte der Eltern, auf die sich die Handlung maßgeblich konzentriert. Erzählt in einer komplexen Zeitstruktur zeigt sie ausschnitthaft die Familienhintergründe, das Aufwachsen sowie Kennenlernen der beiden in der DDR und schließlich den bewußt gewählten Abschied vom Heimatland im Jahr 1984.
Pünktlich zum zwanzigsten Jubiläum des Mauerfalls im Jahr 2009 erschien in Deutschland ein ganzer Schwung von Publikationen, die sich allesamt mit der Thematik DDR beschäftigen. Neben «drüben!» wurden Comics von Flix («Da war mal was …»), claire Lenkova («Grenzgebiete. Eine Kindheit zwischen Ost und West») oder Nadia Budde («Such dir was aus, aber beeil dich») nahezu zeitgleich veröffentlicht. Das Timing scheint auch das richtige gewesen zu sein: Alle vier Titel erfreuten sich großen Anklangs.
Simon Schwartz wurde 1982 in Erfurt geboren, verließ die DDR im Alter von nur 18 Monaten und wuchs in Westberlin auf. Vor seinem Studium an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg, arbeitete er bereits für das Comicmagazin Mosaik und ist, mit Wohnsitz in Hamburg, inzwischen hauptsächlich als Comiczeichner und Illustrator für verschiedene Zeitschriften und Magazine tätig. Mit «drüben!» diplomierte er an der HAW und brachte dabei ein Buch hervor, das auf den ersten Blick eher unscheinbar wirkt: Die Bilder in schwarz-weiß-grauen Tönen, der Zeichenstil klar, die Geschichte aus dem Alltag entnommen, der Ton des Erzählens unspektakulär – was macht diesen Comic zu einem Besonderen? Es ist gerade dieses Schlichte und Ruhige, mit der die Geschichte daherkommt. Getreu dem Motto «Weniger ist mehr!», ganz ohne Tamtam. Dieser Eindruck wird durch den einfachen Titel und einen regelmäßigen Seitenaufbau unterstützt. Genau dieses stimmige Gesamtzusammenspiel ermöglicht nämlich die Konzentration auf die wesentliche Botschaft: die Empfindungen der teilnehmenden Personen. Diese reichen vollkommen aus, um die Geschichte zu einer fesselnden zu machen, und sie werden eindrucksvoll dargestellt. Die Gesichter sprechen bereits für sich, zeigen Sorge, Angst, Verzweiflung, aber auch Freude und Erleichterung. Ebenso vermitteln die Darbietungen der Figuren im Wechselspiel zu den metaphorisch gestalteten Hintergründen, welche intensiven Gefühle im Spiel sind. Daneben beweist der Autor ein gutes Gespür dafür, mit einfachen Worten die nötigen Zusammenhänge ergänzend zu erklären. Auf Anklage wird verzichtet und stattdessen auf Einfühlung gesetzt. So wird beispielsweise der innere Konflikt des Vaters verdeutlicht, indem alle ihn beeinflussenden Rollen und Charakterbestandteile auf einer Doppelseite parallel zu Wort kommen und sich untereinander zu rechtfertigen versuchen. Diese reichen vom Ernst-Thälmann-Pionier und Mustersohn über den Studenten bis zum Familienvater. Vorrangig jedoch erspürt man bei der Erzählung die Perspektive des Sohnes Simon, der sich aus einer Mischung aus eigenen Erinnerungen und denen der Angehörigen die Familiengeschichte rekonstruiert. Insbesondere für die Darstellung der eigenen erhaltenen Eindrücke läßt er sich viel Zeit und füllt dabei ganze Seiten ohne das Hinzufügen von Worten. Gerade diese stillen Seiten erweisen sich als besonders ausdrucksstark und voller Tiefgang.
Britta Keutgen

Britta Keutgen und Felix Giesa führten im Juli ein E-Mail-Interview mit Simon Schwartz für das COMIC!-Jahrbuch.


COMIC!: Dein Comic ist als Diplomarbeit an der HAW entstanden. Welche Erfahrungen hast du mit Höhen und Tiefen, die ein solcher Schaffensprozeß für gewöhnlich mit sich bringt, gemacht?

Simon Schwartz: Oh Gott, viele. Tatsächlich mehr Tiefen als Höhen. Ich habe mich quasi zwei Jahre lang in ständiger künstlerischer Selbstreflexion über dieses Familiendrama befunden. Das macht nicht unbedingt viel Spaß, ist aber meiner Meinung nach besser als jede Therapie.

COMIC!: War es denn gleich geplant, daß der Comic deine Diplomarbeit wird, oder hat sich das erst später ergeben?

Simon Schwartz: Es war klar, daß meine Diplomarbeit ein Comic wird. Das Thema fand sich erst später.

COMIC!: Wie hast du die Arbeit organisiert? Hast du dich zunächst mit Comictheorie beschäftigt und alles genau geplant oder hast du einfach nach Gefühl losgelegt?

Simon Schwartz: Ich bin kein großer Freund von der ganzen Theoretisierung und wissenschaftlichen Erforschung des Comics. Es nimmt mir den Zauber an der eigenen Arbeit. Man wird dann berechnend und überrascht sich nicht mehr selbst. Ferner finde ich, ist es nicht die Aufgabe des Künstlers, sich mit so etwas zu beschäftigen. Ich finde es auch langweilig. Ich bin kein Scott McCloud.

COMIC!: Mußtest du dich denn im Rahmen deines Studiums mit dieser ganzen Theorie-Ebene des Comics auseinandersetzen? Wie war da überhaupt der Einfluß auf deine künstlerische Arbeit?

Simon Schwartz: Das Studium in Hamburg ist sehr stark praxisorientiert. Eine große theoretische Auseinandersetzung fand kaum statt, aber das habe ich nicht als Manko empfunden. Einen sehr großen Einfluß auf mich (und bekanntlich ja auch auf viele andere junge Hamburger Comiczeichner) hatte der Unterricht bei Anke Feuchtenberger. Wenn man jetzt meine Arbeiten oder die anderer ehemaliger Studenten mit den ihren vergleicht, so wird man erstmal kaum Parallelen finden. Im Gegensatz zu vielen anderen Kunstprofessoren ist sie nicht daran interessiert, ihren Studenten ihren eigenen Stil anzutrainieren. Was sie einem jedoch beibringt, und was mir viel geholfen hat, ist eine gewisse künstlerische Moral. Das klingt etwas hochgestochen, trifft es aber sehr gut. Es ist eine Ernsthaftigkeit in der Arbeit, die Fähigkeit die eigenen und andere Denkmuster zu reflektieren und zu brechen, und somit offen für neue Einflüsse zu sein. Das ist tatsächlich gar nicht so leicht, wie es sich sagt. Anke Feuchtenbergers Einfluß auf viele junge Comiczeichner ist nicht zu unterschätzen.

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Burkhard Ihme (Hrsg.)
November 2010
248 Seiten S/W und 4c
EUR 15,25
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