Comicmarkt Frankreich 2009/2010
Die Eroberung der digitalen Welt
Von Britta Madeleine Woitschig
Numerologie 2009: Trügerische Vitalität?
Die betriebswirtschaftliche Betrachtung der Comicbranche im frankophonen Europa bedeutete in der letzten Dezemberwoche 2009 einen klaren Bruch mit den selbstbewußten Verkündungen der letzten Jahrzehnte. Der Optimismus des Kritiker- und Journalistenverbands ACBD1 wich einem Zweifel, dem der ängstliche Ton an-zumerken war. Molières Figur des eingebildeten Kranken prägt noch heute das Bild des Hypochonders, also eines gesunden Menschen, der davon überzeugt ist, leidend und sterbenskrank zu sein; der Generalsekretär des ACBD, Gilles Ratier, konstatierte für den französischen Comic des letzten Jahres2 das krasse Gegenteil, für das es bislang keinen treffenden Ausdruck gibt. Sachlich richtig läßt sich der Titel des Jahresberichts mit «Trügt die Vitalität?» wiedergeben. Das Fragezeichen signalisiert in dieser Hinsicht, wie hilflos das Mosaik der Marketingagenturen GfK, I+C, Ipsos und FEVAD sowie das Branchenblatt des Buchhandels LIVRES HEBDO3 Veränderungen des Marktes ausgeliefert ist. Céline Fédou, die Managerin des Buchsektors bei der GfK, schätzte die Situation im wörtlichen Sinne rosiger ein. Ihr drei Seiten langer Bericht heißt (als Replik auf die ACBD-Einschätzung) «Der frankophone Comic hat wieder Farbe bekommen!»
Mit einem Umsatz von 320 Millionen Euro bleibt der Comicmarkt verhältnismäßig stabil, während der Zuwachs neuer Titel mit +2,4 % deutlich ausgebremst wurde (20084: +10,04 %). Fédou von der GfK kommt auf 40 Millionen verkaufte Comics mit einem Wert von 400 Millionen Euro, wobei der Comicbereich 3,4 % des Buchhandels ausmacht. Dabei errechnet Fédou für den Comicmarkt einen schwachen Anstieg von +0,3 %, der den Graphic Novels und Alben zu verdanken ist. Der Mangasektor hat zwar an Wert mit +0,3 % zugelegt, allerdings sind absolut weniger Manga über den Ladentisch gewandert (0,5 %). Bei den einheimischen Comics ergibt ein leichter Zuwachs an verkauften Einheiten (+0,7 %) einen deutlich höheren Umsatz (+3,5 %).
Trotz der ungünstigeren Zahlen sieht ACBD5 relativ mehr Comics im Handel, nämlich 4.863 Titel (2008: 4.746) von insgesamt 65.000, woraus sich ein Anteil von 7,48 % ergibt. Das sind absolut lediglich 117 Titel mehr als im Vorjahr, die Anzahl neuer Titel steigerte sich nur unwesentlich auf 3.599 (2008: 3.592). Der Verband gesteht ein, das Medium nicht mehr quantitativ fassen zu können, weil sich Comics durch den technischen Fortschritt (digitale Applikationen beispielsweise) und neue Formate im Vertrieb (wie das Kleinformat) kontinuierlich verändern.
Nach dieser magischen Rechnung gab es im frankophonen Europa (Frankreich, Belgien, Schweiz) 892 Neueditionen, deutlich mehr als 2008 (821). Artbooks und illustrierte Bände steigerten ihren Anteil von 271 (2008) auf 297 Titel, wissenschaftliche Essays und Monografien von 62 auf 75 Titel. Werden diese drei Kategorien abgezogen, verbleiben bei den reinen Comics 3.599 Titel.
177 Titel waren zwar älter als zwanzig Jahre, wurden aber erstmalig als Album publiziert. Die Anzahl der «veritablen Neuheiten» (was immer das ist) im frankophonen Europa belief sich auf 1.531 Titel (2008: 1.535).
Das Angebot gliederte sich auf in 1.460 Manga, Manhwa, Manhua und andere asiatische Titel (40,57% von 4.863), 1.471 frankobelgische Alben (40,87 %), 270 amerikanische Importe (7,5 %) sowie 398 Graphic Novels (11,05 %). Das neue Angebot scheint wieder junges Publikumzu gewinnen, denn der Anteil der Comics für die Jüngsten wuchs von 173 Titeln auf 185 Titel 2009. Historisierende Comics verzeichneten einen zweiten Frühling nach der VÉCU- und (A SUIVRE)-Ära, erschienen im vergangenen Jahr doch 316 Alben (2008: 297). Zu den Verlierern der Publikumsgunst gehören humoristische Werke, von denen nur noch 482 Alben (2008: 527) publiziert wurden. Ebenfalls zurück ging auch das Angebot in den Genres Fantasy und Science-fiction, wo die absolute Zahl von 267 auf 239 Alben sank. Als neue Rubrik 2009 wurden 37 erotische Titel registriert.
Unabhängige Kleinverlage sind für eine deutliche Ausweitung der Programmvielfalt verantwortlich, denn 936 neuen Titeln 2008 standen im Folgejahr 1.122 Neuheiten gegenüber. Dennoch prägt die Konzentration neun großer Medienkonzerne, die 60 % der Titel produzieren, den Markt, während der Rest sich auf 279 Konkurrenten verteilt. Wie im Vorjahr stammt das größte Segment, nämlich 586 Titel (2008: 627), von Média-Participations, dem Konzern der Klassiker und Blockbuster. Mit 12,05% der Titel gelang es dem Konzern, einen Anteil von 32,7% der verkauften Alben im Frankreich einzuspielen, wodurch Média-Participations insgesamt zur Nummer Fünf auf dem allgemeinen Buchmarkt aufstieg.
Den zweiten Platz konnte Glénat, der 2009 sein 40jähriges Jubiläum feierte, mit 16 % der Gesamttitel erringen. Allerdings waren dafür mehr Titel notwendig, denn Glénat weitete sein Programm auf 413 Titel aus (2008: 380) und wurde dadurch wichtigster Importeur, wodurch der Marktanteil von 8,01 % auf 8,49 % gesteigert werden konnte. Delcourt konnte sich mit 10% der Albenverkäufe zwar auf dem dritten Rang behaupten, trotz des vielfältigen Programms mit einer bedeutenden Mangasparte und einem annähernd konstanten Angebot (2008: 479 und 2009: 482) sank der Marktanteil leicht von 10,09 % auf 9,91 %. Der klassische Buchverlag Flammarion, eine Filiale des italienischen RCS-Konzerns, erzielte mit 271 Titeln 7,7 % der Verkäufe. Die Gruppe MC Productions hatte 380 Titel im Programm und erreichte 7,4 % der Albenverkäufe.
Diese Expansion der kapitalstarken Konkurrenten bringt nach Ratier mittlere und kleine Unternehmen ebenso unter Druck wie Kinder- und Jugendbuchverlage, literarische Verlage mit Comicimprints wie Actes Sud BD, L’An2, La Martinière oder Le Seuil und letztlich auch alternative Projekte, die grafisch und erzählerisch experimentelle Werke riskieren.
Diese Struktur schlägt sich in den härter gewordenen Bedingungen nieder, allein mit Werken im Comicsektor den Lebensunterhalt zu bestreiten, wozu 1.439 Autoren in der Lage waren (2008: 1416). Gleichzeitig ist der Anteil der Frauen von 10,66 % auf 11,12 % gestiegen, respektive von 151 auf 160. Ebenfalls zugenommen hat der Anteil der Szenaristen von 248 auf 257. Ins Rampenlicht sind 106 professionelle Koloristen getreten, die um den Status ihres Berufes ringen und Wertschätzung als Comicautoren einfordern. Um den Lebensstandard zu halten, sind wenigstens drei lieferbare Alben notwendig. Falls das nicht der Fall sein sollte, bieten reguläre Arbeiten im Presse- und Kinderbuchbereich oder ein anderer Nebenberuf ein notwendiges Zubrot.