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COMIC!-JAHRBUCH 2011

Unser Mann im All
Von Weltraumhelden und Alligatoren

Von Christian Endres

Der Kalte Krieg befand sich auf seinem Höhepunkt, als die Heftroman-Autoren Clark Darlton – d. i. Walter Ernsting – und Karl-Herbert Scheer 1960 bei einem Treffen in München die größte Science-fiction-Saga und Heftroman-Serie der Welt aus der Taufe hoben: «Perry Rhodan». Heute hat die Gesamtauflage der gedruckten Abenteuer allein in Deutschland längst die Milliardengrenze überschritten – 2009 feierte man Heft 2.500 der ohne Unterbrechung wöchentlich erscheinenden Erstauflage, und im Herbst 2011 zelebriert man mit dem 5. WeltCon in Mannheim unter dem Motto «Die Zukunft hat einen Namen» 50 Jahre Perry Rhodan. Dazu kommen Lizenzausgaben in Frankreich, Holland, Tschechien, Brasilien, Japan und den USA sowie Taschenbücher und Hardcover mit neuen Geschichten und Nachdrucken klassischen Materials. Nicht zu vergessen die obligatorische Legion an Franchise-Artikeln, die auch zum Perryversum1 dazugehört und wo heute von Hörbüchern über Computerspiele bis hin zu Modellbausätzen und T-Shirts alles geboten wird – natürlich auch Comics.


Comic-Milchstraße

Comics haben im Perryversum eine lange Tradition, wie an anderer Stelle schon hinlänglich erörtert. Das weiß auch «Perry Rhodan»-Marketingchef Klaus Bollhöfener, der im Serienhauptquartier des Pabel-Moewig Verlags in Rastatt sitzt und die äußerst vitale Marke «Perry Rhodan» steuert und überwacht. Vertrieb, Marketing, Grafik und Chefredaktion werden in Rastatt erledigt, während die an der Serie und ihren Ablegern beteiligten Autoren als Freischaffende dezentral organisiert sind, wie man so schön sagt.
In Rastatt ist man gegenüber Comics dabei durchaus positiv eingestellt: «Comics haben die ‹Perry-Rhodan›-Serie seit den Siebziger Jahren immer begleitet, bereichert und ergänzt», sagt Bollhöfener. «Sie sind ein weiteres Format, mit dem wir die Serie in ein anderes Medium transferieren. Zudem haben wir mit den Comics ein zusätzliches Spielfeld, auf dem wir den ‹Perry Rhodan›-Kosmos visualisieren und illustrieren können.» Obwohl die einzige aktuelle Perry-Comic-Serie («Perry – Unser Mann im All») aus Verlegersicht von der Alligator Farm2 gesteuert wird, hat man auch in Rastatt mit der Serie zu tun: «Alle Lizenzprodukte müssen zur Prüfung und Freigabe über einen Tisch in Rastatt», erzählt Bollhöfener vom Alltag in der Redaktion. «Insofern gibt es auf der inhaltlichen und kreativen Ebene einen ständigen Austausch zwischen uns und den Alligatoren.» Zumal man auch längst für PR-Zwecke zusammenarbeitet: «Wir stimmen uns über Auftritte bei Veranstaltungen ebenso ab wie über anstehende Marketing- oder Werbemaßnahmen.»
Trotz aller Zusammenarbeit – Einfluß auf das Geschehen in den klassischen Trägermedien der Serie, also den Heftromanen und den Taschenbüchern, haben die Comics nicht: «Bisher haben ‹Perry Rhodan›-Comics keinerlei Einfluß auf die Kontinuität der Serie», erläutert Chefredakteur Klaus N. Frick. «Mit einer Ausnahme: Einige Hintergründe aus dem ‹Perry Rhodan›-Comic, den wir Anfang dieses Jahrzehnts veröffentlicht haben, sind in die Heftromanserie eingeflossen. Eigentlich finde ich es immer besser, wenn die einzelnen ‹Perry Rhodan›-Bestandteile miteinander verknüpft sind und das Perryversum bereichern. Bei den Perry-Comics der Alligator Farm ist das nicht so, weil diese bewußt mit den Regeln und Klischees der Serie spielen und sie oftmals auch ‹brechen›. So etwas kann nicht serienrelevant sein, das fänden die Leser nicht gut.»
Die Kenner in der Redaktion mögen die Comic-Sampler der Alligatoren trotzdem sehr: «Ich finde die Comics mit ihrem teilweise anarchistischen Charme sehr amüsant», so Frick. «Das ist eine andere Art, ‹Perry Rhodan› darzustellen, und das macht den Zeichnern und Autoren sichtlich Spaß. Und mir als Redakteur auch. Dabei gefällt mir weiß Gott nicht alles, aber das ist das Schöne bei so einem stilistisch-inhaltlichen Mix, daß man nicht alles mögen muß ...» Ein großes Lob, bedenkt man Fricks starke Verwachsung mit der Serie. Klaus Bollhöfener findet ebenfalls: «Diese gewollte Mißachtung des Serien-Kanons macht einfach nur irre Spaß. Mir gefällt das völlig freie und ungezwungene Vermischen von verschiedenen Handlungsebenen und Figuren aus der Serie.»
Von früheren Lesern gab es dagegen nicht viel Feedback für den Relaunch von «Perry – Unser Mann im All» durch die Alligatoren, obwohl man mit dem ersten neuen Heft aus dem Jahre 2006 als Ausgabe 130 sogar den lange überfälligen Abschluß des Abenteuers aus Heft 129 der ersten Serieninkarnation von 1975 präsentierte. Das wenige, das an Feedback verzeichnet werden konnte, kam laut Mit-Ober-Alligator, Hauptgeschichten-Autor und Projekt-Koordinator Kai Hirdt aber «immer von Herzen» und reichte von «Schön, daß es das endlich wieder gibt!» bis zu «Ihr Kriminellen versaut die Rhodan-Serie noch mehr als die Irren vor 30 Jahren!».
Aber so ist das eben, wenn man neue Comic-Beiträge zu einem äußerst beliebten Serien-Dinosaurier beisteuert, die inhaltlich und optisch durchaus herausstechen und den einen oder anderen Langzeit-Fan dann schon mal kitzeln.


Wieder im All

Seit April 2006 erscheint unter dem Verlags-Etikett der Alligator Farm «Perry – Unser Mann im All» im Heftformat. Neben der fortlaufenden Titelgeschichte enthält jedes Heft diverse Kurzgeschichten, von denen sich jede auf eine Figur aus dem Perryversum konzentriert. Naturgemäß gefällt nicht jeder Stil und nicht jede Story in den Heften – aber das ist für so einen etwas trashigen Indie-Sampler in der Summe durchaus in Ordnung und normal.
Nichtsdestotrotz hat man sich inzwischen recht weit vom ursprünglichen «Kollektiv-Ansinnen» der Alligator Farm fortbewegt, die einst von Karl Nagel als Comic-Studio in der Hansestadt ins Leben gerufen worden war und im März 2008 von Nagel an Kai Hirdt und Maikel Das übergeben wurde. «Die Gründungsidee war mal, ein Studio zu schaffen, in dem die Künstler gemeinsam arbeiten, voneinander lernen und tolle Comics schaffen, die an den Kiosken aus den Regalen fliegen und das Ganze dadurch finanzieren», erläutert Hirdt. «Das hat leider nicht so geklappt wie erträumt, sodaß wir das Studio irgendwann schließen mußten. Die Fixkosten waren zu hoch.» Immerhin, verloren ist das Konzept deshalb noch nicht: «Wir halten nach wie vor am Ziel fest, vielen Einsteigern eine Chance auf Veröffentlichung zu geben und eine Infrastruktur anzubieten, in der sie voneinander lernen können. Das passiert halt nur nicht mehr live im Studio, sondern über ein Online-System, in dem jeder seine Zwischenschritte einstellen und sich Feedback abholen kann.» Damit ist die Alligator Farm immer noch deutlich «mehr als ‹nur ein Verlag›», wie Hirdt zurecht betont.
So, wie «Perry Rhodan» für Fans und Kreative meist mehr als eine Serie, mehr als ein normales Hobby ist.
Dabei war es bei Hirdt in Bezug auf Perry erst Liebe auf den zweiten Blick, wie er sich erinnert: »Als Kind hatte ich die Europa-Hörspielkassetten, die fand ich toll, und bin dann in die Silberbände eingestiegen. Da war aber bei Band vier Schluß, da hat die Story mich als Achtjährigen ziemlich gelangweilt. Ehrlich gesagt habe ich bis heute keine Ahnung, was der Plan mit Tifflor und dem Zellsender damals sollte. Science-fiction-Fan bin ich immer geblieben, und etwa mit 22 fielen mir die Silberbände 5 bis 8 günstig in die Hände. Seitdem bin ich fest dabei. Seit fast 10 Jahren lese ich jede Woche die Erstauflage. Seit Mitte 2009 bin ich zudem offiziell die Twitter-Stimme von Perry Rhodan3, berichte also aus seiner Perspektive und habe dadurch das Vergnügen, die Romane zwei, drei Wochen vor der Veröffentlichung zu bekommen.« Auch Hirdts Liebe zu Comics entwickelte sich nicht auf Anhieb: »Comics und ich haben spät zueinandergefunden. Als Riesenfan von ‹Babylon 5› war ich neugierig, als der Schöpfer der Serie [J. M. Straczynski] anfing, Comics zu schreiben. Das war mein Einstieg. Dann habe ich nach und nach die ganzen Perlen entdeckt, die dieses Medium bereithält. Neil Gaiman, Garth Ennis, Warren Ellis – großartig!« Zur Alligator Farm und «Perry – Unser Mann im All» fand der 1976 in Bonn geborene Hirdt über Plakate, die Karl Nagel damals auf der Suche nach Zeichnern in Hamburger Comicläden aufgehangen hatte. Hirdt bewarb sich allerdings als Texter. Er erinnert sich noch gut an die grundlegenden Gedanken, die sich alle Beteiligten machten, als es um die Fortsetzung der von 1969 bis 1975 im Moewig-Verlag veröffentlichten Serie ging, die drei Dekaden zuvor mit Heft 129 eingestellt worden war:
«Karl [Nagel] war selbst als Kind Fan der Perry-Comics – insofern war der Übergang leicht: Wir hatten einen Experten dabei, der nicht nur mit Blick von heute auf die Hefte von damals schaute, sondern noch genau wußte, was sie damals für ihn bedeuteten. Nach dem ersten Heft war uns aber recht bald klar, daß wir die Comics ins neue Jahrtausend herüber holen mußten – ein reines Retro-Produkt im Stil der Siebziger hätte wohl nicht genug Käufer gefunden, um vier Jahre durchzuhalten. Deshalb sieht man bei unseren Heften von heute auch eine deutliche Entwicklung im Vergleich zu unserem Start 2006.»
So präsentiert sich die Serie heute als ein «guter Querschnitt durch die deutsche Independent-Comic-Szene», wie man bei den Alligatoren selbst am besten weiß, wo man auch mit dem nötigen Ernst an die Sache rangeht: «Wir haben eine fortgesetzte Hauptstory, an der drei bis fünf Leute mitarbeiten – also völlig normale Produktionsbedingungen. Im Einzelnen sind das zwei Autoren, Zeichner, Tuscher, Kolorist», erzählt Hirdt. «Zusätzlich haben wir aber noch immer mehrere Kurzgeschichten im Heft, die von weiteren Autoren- und Zeichnerteams stammen. Insgesamt sind dann gerne mal 20 oder 25 kreative Köpfe am Heft beteiligt.» Kompetenzgerangel gibt es trotz der vielen Mitarbeiter nur selten: «Manchmal hat man unterschiedliche Vorstellungen, wie man eine Geschichte am schönsten umsetzt. Aber da können wir uns eigentlich immer ohne Blutvergießen einigen.»
Ein wichtiger, entscheidender Faktor ist dabei – wie so oft bei solchen Projekten heute – das Internet. «Über das Internet ist es möglich, viele Kreative einzubinden, die gerne bei uns dabei sein möchten, bei denen das aber früher wegen der räumlichen Distanz schwierig gewesen wäre», sagt auch Hirdt. «Wir haben ein Online-Mitarbeitersystem, in dem sich Autoren und Zeichner für die Nebenstorys zusammenfinden, Arbeitsstände hochladen und sich Feedback holen können. Bei der Hauptstory funktioniert das etwas anders, da entwickeln Christian Hillmann und ich gemeinsam die Story – auch online bzw. per Telefon, zwischen uns liegen geschätzte 800 Kilometer. Da mache ich also gerne mal sonntags eine Flasche Wein auf, lege die Beine auf den Tisch und telefoniere drei Stunden mit Christian. Dann schreibt einer den ersten Entwurf, der andere gibt Feedback oder schreibt um, und immer hin und her, bis wir beide glücklich sind. Manchmal geht das schnell, manchmal dauert es aber auch Monate – bei komplexen Geschichten, und wenn wir beide viel mit Beruf und Studium um die Ohren haben. Die Zeichner haben dann oft schon ausgemacht, wer welche Aufgabe übernimmt, und setzen das dann um.» Dabei folgt man dem Geist der alten Marvel-Comics, als die Zeichner maßgeblich Einfluß auf den Umbruch einer Geschichte hatten und Autoren nach der zeichnerischen Umsetzung ihrer Idee erst die Dialoge schrieben. «Wir arbeiten nach Marvel-Style, will heißen, die Zeichner entscheiden selbst, wie sie die Handlung des Skriptes in Bilder übertragen. Da kommen viel dynamischere Ergebnisse bei heraus, als wenn die Autoren sich da einmischen.» Schließlich ist es die Aufgabe des Ende 2007 zur Alligator Farm hinzugestoßenen Maikel Das, der auch einige Geschichten koloriert und daneben für Layout, Druck und Vertrieb verantwortlich ist, «aus den vielen Geschichten das Heft zusammenzusetzen und zu entscheiden, welche Story in die aktuelle Ausgabe kommt und was später vielleicht besser paßt», wie Hirdt den Abschluß der Heftproduktion beschreibt.

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Fußnote 3: twitter.com/Perry_rhodan
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Burkhard Ihme (Hrsg.)
November 2010
248 Seiten S/W und 4c
EUR 15,25
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