Lektüre
 Independent Comic Shop   ICOM-Publikationen   Kostenlos   Fachmagazine   Sekundärliteratur 
Das COMIC!-Jahrbuch | Das ICOM!-Handbuch | Der ICOM!-Ratgeber
FILMRISS | Das verbandseigene Fachmagazin
COMIC!-JAHRBUCH 2011

Zwischen Tradition, Popkultur und Fernsehen
Der Kindercomic heute

Von Klaus Schikowski

Kindercomics begegnen einem praktisch überall. Wenn man ein Vielflieger ist, wird man sicher schon von «AirBär» gehört oder gelesen haben, dem Maskottchen von Air Berlin, kauft man in der Apotheke ein, so kommt man um Medizini oder Junior nicht herum, und natürlich kennt man Knax, das seit 1974 an den Sparkassen ausliegt. Hinzukommen auch Kindercomics in Tageszeitungen, in Kioskheften und in Kundenzeitschriften. Nahezu überall, wo auch eine Kinderseite in Zeitungen und Zeitschriften ist, lassen sich auch Comics für Kinder finden. Zumeist traditionell in Comicform gehalten, nicht selten mit Tierfiguren, um auch möglichst die Kleinen anzusprechen. Schließlich stellen gerade diese die gerne als «Zielgruppe von morgen» betitelte Leserschaft dar.

Doch um es milde auszudrücken, es interessiert sich kaum jemand dafür. Einige wenige in die Jahre gekommenen Sammler wissen es zu würdigen, aber ansonsten bleibt der Schulhof weitgehend frei von diesen Druckerzeugnissen. Oder kann man sich wirklich vorstellen, daß ein kleiner Junge mit einem Heft wedelnd in das Klassenzimmer läuft und ruft: «Hey, das neue Knax ist endlich da!» Auf den Schulhöfen der Republik gibt es vielmehr ein anderes Bild zu sehen, Mädchengruppen stehen zusammen und tauschen die neuesten Manga aus. Sie schmökern in diesen modernen Liebesgeschichten, und so manche fiebern schon der nächste Convention entgegen, wo sie als Cosplayer verkleidet in die Haut bzw. das Kostüm ihrer Lieblingshelden schlüpfen können. Verkehrte Welt? Nein, Deutschland im Jahre 2010.
Deshalb werden Comics für Kinder wie eine Art bedrohte Spezies behandelt, mit allergrößter Vorsicht und mit großem Unbehagen. Spricht man heutzutage über Kindercomics, so muß man unweigerlich auch über den Manga sprechen, den scheinbar großen Konkurrenten, das gilt ebenso für digitale Medien und ein verändertes Leseverhalten aufgrund des Fernsehkonsums. Die Frage, die sich dabei aufdrängt, ist, ob es wirklich Konkurrenten sind oder ob nicht der Comic dabei auch in gewissem Maße profitiert. Manga sind und bleiben, allen Unkenrufen zum Trotz, auch nur Comics. Sie sind nur ... anders als Comics westlicher Prägung. Kindercomics sind in erster Linie Comics, die für Kinder gemacht sind. Sie sollen also sowohl inhaltlich als auch formal ein jüngeres Publikum ansprechen. Das tun auch die Manga, wenngleich auch in ungewohnter Form. Sie haben zudem noch eine neue Zielgruppe entdeckt, junge Mädchen. Welcher westliche Comic kann das schon von sich behaupten? Naja, abgesehen vom Pferdecomic «Wendy».
Dabei gibt es schöne Beispiele toller Kindercomics in Zeitschriften und Zeitungen, und das ist nur eine subjektive Auswahl: «Nana und Paul» von Thees Carstens, Rauties «Familie Rappelrübe», Baltscheits und Ulf K.s «Philosofisch», «Popel» von Thorsten Trantow, «Willi Wurm» von Gulbransson und Nemeth oder alles von Jörg Peter («Die Borstels», «Mister Kläx» mit Thees Carstens) oder Franz Gerg («Max & Luzie», KNAX). Allerdings sind diese Comics zumeist von einer westlichen Comickultur geprägt, und so wirken diese zeitgenössischen Kindercomics im Vergleich zu den actionbetonten und spannungsgeladenen Manga geradezu betulich für Kids von heute. Insofern erscheint der Vergleich der derzeit erscheinenden Kindercomics mit den Manga eigentlich ungerecht. Letztere betonen viel mehr den Zeitgeist und verweisen nicht auf eine Comic-Tradition, die womöglich bei Kindern längst überholt ist. Aber als Feindbild taugen die fernöstlichen Manga vor allem in den Augen der Pessimisten, denn sie tragen in den Augen vieler die «Schuld», daß dem Kindercomic der Rang abgelaufen wird. Dabei sind die importierten Comic-Geschichten aus Japan in der Regel für ein jugendliches Publikum gemacht, werden aber durchaus auch von Kindern goutiert, etwa die Bestseller wie «Dragon Ball», «Naruto», «One Piece» oder auch «Detektiv Conan». Kolportierte sechs Millionen verkaufter Exemplare von «Dragon Ball» sprechen eine deutliche Sprache.
Bei vielen Kindern haben sich die Manga innerhalb kürzester Zeit in den Vordergrund gedrängt. In einer Studie von 2005 (Sozioland) antworteten Kinder bis 14 Jahren bei der Frage «Was ist besser – Manga oder Comic», 80 % Manga und nur 6,4% Comic. Das sind ernüchternde Zahlen, und es darf bezweifelt werden, daß sich das Verhältnis in den letzten Jahren umgekehrt hat. Das Fernsehen mit den Anime-Serien spielt dabei sicherlich eine große Rolle, denn schließlich können Kinder zur besten Sendezeit nachmittags schon ihre Helden «Naruto» und alle anderen sehen. Vom Film zum Manga ist es dann nur ein kleiner Schritt. Daß der Kindercomic aber auch von den Manga lernen kann, hat fraglos die italienische Disney-Serie «W.I.T.C.H.» bewiesen, denn daran läßt sich festmachen, wie ein zeitgenössischer, moderner und auch populärer Comic für Kinder aussehen kann. Zudem wird im Magazin auch die Schnittmenge zu Fashion, Musik und Fernsehen gesucht. Optisch wirkt der Zeichenstil der Geschichten wie eine Mischung aus Zeichentrick und Manga. Im Grunde genommen sollte es also egal sein, welche Form der Comics Kinder lesen, so lange sie es überhaupt tun.
Aber natürlich ist zu bezweifeln, daß der Manga bei westlichen Lesern den traditionell gehaltenen Kindercomic komplett ablösen wird. Im Gegensatz zu den millionenfach verkauften Mangaserien stehen natürlich weiterhin millionenfach verkaufte «Lustige Taschenbücher», ganz zu schweigen von der Gesamtauflage der «Asterix»-Bände, die mittlerweile über 100 Millionen liegen dürfte. Zudem, das darf nicht vergessen werden, sind Manga für ein jüngeres Publikum wie beispielsweise die Serie «Yotsuba» die Ausnahme. Die meisten Manga sind für Jugendliche gemacht, und auf die Frage nach bekannten Kindermanga in Deutschland kam selbst einer der besten Mangakenner und Verlagsredakteur von Mangatiteln ins Schwimmen. Obwohl es doch gerade die Themenvielfalt ist, die den Manga in seinem Heimatland so populär gemacht hat, sind in Deutschland ganze Genres bislang unbekannt. Daß die Abenteuer- und Sportmanga auch jüngere Leser ansprechen, dürfte stimmen, daß sich aber sechs- bzw. siebenjährige Mädchen Boys- bzw. Girls-Love-Geschichten durchlesen, kann schon angezweifelt werden. Da ist es eher wahrscheinlich, daß diese Altersgruppe auch «normale» Kindercomics wie die «Schlümpfe» oder «Yakari» aus der Bibliothek lesen, sie sind nur in der Minderzahl. Der Kindercomic scheint also nur etwas aus dem Blickpunkt geraten zu sein.

Auf den Geschmack gekommen?
Weiterlesen im COMIC!-Jahrbuch 2011
Übersicht der Linklisten
  Alle Jahrbücher
Comic Jahrbuch 2011
Comic Jahrbuch 2010
Comic Jahrbuch 2009
Comic Jahrbuch 2008
Comic Jahrbuch 2007
Comic Jahrbuch 2006
Comic Jahrbuch 2005
Comic Jahrbuch 2004
Comic Jahrbuch 2003
Comic Jahrbuch 2001
Comic Jahrbuch 2000
COMIC!-Jahrbuch 2011
Burkhard Ihme (Hrsg.)
November 2010
248 Seiten S/W und 4c
EUR 15,25
BESTELLEN