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COMIC!-JAHRBUCH 2011

Freund oder Feind? Comics und Leseförderung

Von Nina Mahrt

Eltern, Lehrer, Bibliothekare – alle möchten, daß Kinder ans Lesen herangeführt und für das Lesen begeistert werden. Dafür gibt es etwa in Bibliotheken und Schulen, aber auch in Initiativen von Privatpersonen und der Verlagswirtschaft zahlreiche Angebote und Ausschreibungen, die der Förderung des Lesens und der Literatur dienen sollen.
Leseförderung zielt neben der Förderung der Lesefähigkeit darauf ab, den Stellenwert des Lesens und der «Buchkultur» in der Gesellschaft zu bewahren und zu erhöhen, so sinngemäß eine Definition von Thomas Eicher.1
Spielt der Comic im Zusammenhang mit dem Thema Leseförderung überhaupt eine Rolle? Oder wird er mit anderen Formaten wie Hörspiel, Computerspiel oder Film dem klassischen Buch eher als Konkurrent gegenübergestellt? Zählt der Comic also zur von Eicher genannten «Buchkultur» oder wird er außerhalb derselben wahrgenommen?
Wenn es um Leseförderung geht, sind die Meinungen und Haltungen zum Comic sehr unterschiedlich, zum Teil auch widersprüchlich – eine Bandbreite, die der folgende Artikel an Beispielen darstellt.


Der Comic – Konkurrent der Literatur

«Hilfe, mein Kind liest nur Comics!», so lautet eine Überschrift in der Zeitschrift Praxis Schule zum Thema Leseförderung. Auf diesen (fiktiven) Hilferuf eines Elternteils antwortet eine Psychologin beschwichtigend: Kinder müßten nicht unbedingt (viel und freiwillig) lesen, um sich die Welt anzueignen und sich positiv zu entwickeln. Hierbei wird – in der Schilderung des Problems wie im Rat der Psychologin – das Lesen von Comics ganz selbstverständlich mit dem Nichtlesen gleichgesetzt.2
Wie das Beispiel zeigt, gibt es noch immer die Auffassung, bei Comics handle es sich per se um minderwertige, triviale Literatur – wenn sie überhaupt als Literatur verstanden werden. Damit wird der Comic deutlich in Opposition zum Buch gesetzt, das als Objekt des hochwertigen Lesens gilt. Der Comic wird außerhalb der Buchkultur positioniert.
Derartige Haltungen machen deutlich, daß die Bemühungen mancher Verlage, gerade für jugendliche Leser anspruchsvollere Comics zu veröffentlichen – Graphic Novels und Comicversionen von bekannten Jugendbüchern wie «Die Welle» oder «Der erste Frühling» sind Beispiele dafür – bisher offensichtlich wenig am Image der Comics ändern konnten.
Das Schicksal, neben dem Buch als zweitklassig zu gelten, ist jedoch nicht allein dem Comic beschieden. In Umfragen zum Medienverhalten von Kindern und Jugendlichen wird als «Lesen» (im Sinne der Leseförderung) meist allein das Lesen von Büchern (gemeint sind Romane und Sachbücher) verstanden. Dagegen werden Zeitungen, Zeitschriften und Comics jeweils gesondert aufgeführt.3 Insofern ist auch der Blick von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die solche Studien auswerten, davon geprägt, dem Buch eine Sonderstellung unter allen Lesestoffen einzuräumen und die Lektüre von Comics und Büchern in direkte Opposition zueinander zu stellen.
«Mit dem Erreichen der formalen Lesekompetenz nimmt das Interesse an Comics in dem gleichen Maße ab, wie das Interesse an Büchern zunimmt. Dabei entspricht dem generell überdurchschnittlichen Interesse der Jungen an Comics ein geringeres Interesse an Büchern; bei Mädchen ist es umgekehrt.»4 In diesem Zitat wird ein Zusammenhang zwischen dem Konsum von Comics und dem von Textliteratur hergestellt, der nicht zwingend besteht. Auch hier wird daher die Konkurrenz zwischen Buch und Comic betont. Es entsteht gar der Eindruck, eine geringe Lesefähigkeit begünstige die Comiclektüre. Sobald diese überwunden sei, wendeten sich die Jugendlichen «richtigen Büchern» zu.


Der Comic – Brücke zur Literatur

Daß sich manche Comics gerade für Leseanfänger eignen, führt in einigen Arbeiten zur Leseförderung dazu, den Comic als Hinführung zum Lesen zu propagieren. Hier werden das «normale Buch» und der Comic nicht in Konkurrenz zueinander gesetzt. Es werden vielmehr die Verbindungen zwischen Bilderbuch, das den meisten Erstklässlern vertraut ist, Comic und durch Text dominierten Büchern aufgezeigt und die Vorzüge des Comics für das Lesenlernen hervorgehoben.
Tatsächlich läßt sich festhalten, daß Kriterien, die einen Text als besonders für Erstleser geeignet ausweisen, auch auf viele Comics zutreffen: Geralde Schmidt-Dumont nennt vor allem die sprachliche Komplexität als Kriterium für die Zugänglichkeit für Erstleser. Diese zeigt sich u. a. in der Menge und Länge der Wörter, in der Län-ge der Absätze, in der Komplexität der Satzstrukturen.5 Natürlich gilt nicht für alle, wahrscheinlich noch nicht einmal für die meisten Comics, daß Wörter und Sätze kurz und wenig komplex sind. Es lassen sich aber zahlreiche Comics finden, die nicht nur in der Textmenge, sondern auch in den sonstigen sprachlichen Anforderungen für Erstleser gut geeignet sind. Was jedoch noch entscheidender ist, ist die Funktion der Bilder im Verlauf der Geschichte. Gerade beim Lesen schwieriger Wörter und beim Verstehen überraschender Wendungen im Handlungsverlauf sind sie für ungeübte Leser wichtige Informationsträger. Nicht zuletzt, indem sie an schwierigen Stellen Unklarheiten mit Hilfe von Bildern beseitigen, schaffen auch viele (klassische) Erstlesebücher «einen sanfteren Übergang von der Bilderbuch- zur Lesephase».6
Bettina Wegenast beschreibt in einem Artikel die besondere Eignung des Comics für das Lesenlernen. Da Kinder schon vor dem Schulanfang darin geübt seien, aus engen Bildfolgen eine Geschichte herauszulesen, «ist der Comic […] wirklich die ideale Form, um durch seine Verschränkung von Bild und Text die Kinder vom Bilderlesen zum Lesen der Schrift zu führen.»7 Der Comic sei sozusagen das Bindeglied zwischen Bilderbuch und Textliteratur, die sich Leseanfänger nun selbst zu erschließen lernen. Dabei regten die Bilder zum Weiterlesen an und die Textteile, die das bildlich Vermittelte ergänzen, seien in ihrer Kürze meist dazu geeignet, die Kinder zusätzlich zu motivieren, während lange Textpassagen zunächst abschreckend, weil überfordernd wirken würden.
Leider schließt Wegenast ihren zunächst wohlwollenden Artikel mit dem für Comics wenig schmeichelhaften Satz «Es gibt eine Menge Leute, die überhaupt nicht lesen. Also ist es doch besser, sie lesen Comics.»8 Selbst der Artikel, der zunächst für den Comic argumentiert, wertet ihn letztlich gegenüber anderen Literaturformen ab.
Diese Tendenz stellt auch Heidtmann anhand einer Befragung von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren fest: «Nicht nur in kleineren Bibliotheken gelten Comics im Sinne einer veralteten Leseförderung lediglich als Instrument zum ‹Hochlesen›.»9

Auf den Geschmack gekommen?
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Links zum Artikel

Fußnote 10: Präambel der Ausschreibung zum Jugendliteraturpreis 2010 unter www.djlp.jugendliteratur.org/ ausschreibung-7.html
Fußnote 9: Heidtmann, Horst: Brücke zum Lesen? Comics in öffentlichen Bibliotheken. In: Comics Anno. Jahrbuch der Forschung zu populärvisuellen Medien, hrsg. von H. Jürgen Kagelmann, München 1995., Internetveröffentlichung unter www.mediaculture-online.de/file admin/bibliothek/heidtmann_bruecke/ heidtmann_bruecke. pdf, S. 5)
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Burkhard Ihme (Hrsg.)
November 2010
248 Seiten S/W und 4c
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