Preisträger 2009 Bester Independent Comic:
«Die sechs Schüsse von Philadelphia»
von Ulrich Scheel
Interview von Clemens Heydenreich
Eines der vielen starken Bilder in Ulrich Scheels graphischer Erzählung «Die sechs Schüsse von Philadelphia» (avant-verlag 2009) wäre gar nicht so stark, sondern ziemlich platt, wenn es in einem Film oder Roman daherkäme. Da sieht man in Großaufnahme ein Holster, selbst gebastelt von drei Jugendlichen für den geladenen Revolver, den sie kurz zuvor gefunden haben. Das Holster besteht aus Grasgeflecht und einer Bonbontüte, und auf der steht seitlich ganz klein: «Zu verbrauchen bis ...». Ein Film hätte diesen Text heranzoomen, ein Roman ihn zitieren müssen explizit und somit kitschig. Im Comic ist er ein Detail, das zu entdecken die Eigenständigkeit des Lesers fordert.
Bis wann werden sie «verbraucht» sein, die sechs Patronen, und vor allem: wofür? Diese zeitlich unbestimmte Deadline erzeugt die Spannung in Scheels Geschichte, dem vielleicht ersten Kammerspiel seit Bühnen-, Film- und Comicgedenken, das fast nur im Freien spielt. Und wie sehr im Freien! Der Himmel ist hoch, die Heide ist weit und die Tage sind lang in diesem brandenburgischen Sommer des Jahres 1980, in dem drei Jungs (und später noch ein Mädchen, das ihrer Clique beitritt) kapitelweise je ein Stück ihrer Ferienzeit totschießen und je ein immer größeres Stück ihrer Unschuld. Fast immer unter sich bleibend andere Figuren tauchen nur episodenweise auf , labern und albern sie dabei so viel herum, wie man es eben tut, wenn die Tage lang sind und die Bilder, in denen man sich bewegt, keine Panelränder haben. Dieser Kunstgriff läßt, solange Scheel sein Regelmaß von zwei Bildern pro Seite hält, die Perspektiv- und Distanzwechsel seines stark auf die Figuren fokussierten Blicks besonders lebhaft wirken. Wo aber dieses Regelmaß effektvoll durchbrochen wird, mit nur einem oder gar einem halben Bild pro Seite, da scheinen mal die weiten, braun ge-
tuschten Land-
schaften ins Unendliche entgrenzt, mal die Dialoge der Protagonisten, mal die Momente der Stille vor und nach dem Schuß: Ein schrankenloser Zeit-Raum voll im tödlichen Doppelsinn bleierner Langeweile, dessen Atmosphäre selbst bei schnellem Lesen eindringlich bleibt: Noch so ein Comic-Spezifikum, das der erzählten Geschichte bestens ansteht.
Und, à propos Dialoge: Die sind bei Scheel eine Kunst ganz für sich. Denn in ihnen konturieren sich die Rede- und Denkweisen von Uwe, Alex, Grolf und Sabine gerade so stark, daß jede(r) zur eigenen Persönlichkeit gerät und nicht (wie in Coming-of-age-Cliquen-Geschichten allzu üblich) zur Typenkarikatur und doch bleibt jede(r) dabei ungefestigt genug, um sich durch schein-vernünftige Gruppenbeschlüsse zu immer entsetzlicheren Dummheiten hinreißen zu lassen.
Ulrich Scheel, geboren 1976 in Berlin (Ost), hat mit seiner an der Kunsthochschule Weißensee entstandenen Graphik-Diplomarbeit zwar in der deutschsprachigen Comic-Szene debütiert, nicht aber als Comic-Autor schlechthin. Schon als Student nämlich hat er zwei Bücher veröffentlichen können: in Frankreich. Im folgenden Interview verrät Scheel, wie es dazu kam, wie sein Schaffen dies- und jenseits des Rheins aufgenommen wurde und wie er selber seine Interessen (und sein preisgekröntes Buch) verortet: zwischen Comic, Graphik, Film und Waffentechnik.
COMIC!: Zunächst einmal eine Standardfrage: Wie bist du zum Comiczeichnen gekommen?
Ulrich Scheel: Mit zwei begann ich zu malen, mit acht war ich in Zeichenzirkeln, das war so richtig mit Aquarell und Holzkohle. Mit zwölf habe ich meine eigenen Comics gemacht. Comics waren damals noch total verpönt (hehe, das klingt lustig). Aber ich hatte einen «liberalen» Kunstlehrer, der mich da sehr gefördert hat.
Als ich 13 war, fiel die Mauer. Mit 17 habe ich mit Mädchen angefangen, und da hat mich Zeichnen überhaupt nicht mehr interessiert obwohl die es immer geliebt haben. Ich habe dann ausschließlich photographiert und gefilmt und sogar eine Ausbildung beim Fernsehen gemacht. Das war eine Katastrophe, weil ich für diese Art Job viel zu lahmarschig bin. Beim Graphikstudium in Weißensee kam ich zurück zum Zeichnen und habe dann auch wieder Comics gemacht. Da war ich um die 25.
COMIC!: Mit welchen Comics bist du selbst aufgewachsen?
Ulrich Scheel: Ich hatte kiloweise Mosaik-Hefte, die habe ich verschlungen. Das waren so ziemlich die einzigen Comics, die ich als Kind gelesen hab, und das hatte keinerlei wirtschaftliche Gründe. Ich hatte auch «Asterixe», aber die haben mich nicht so gekickt wie das Mosaik. Generell war ich nie ein großer Comicleser, bis heute nicht. Beim Mosaik hat mir das Didaktische sehr imponiert, also daß viel Wert gelegt wurde auf Technik, Geographie und Kultur. Die waren ja nie so wirklich zum Totlachen, dafür fand ich die Charaktere immer sehr echt und überzeugend, so daß ich mich problemlos in sie verlieren konnte.
COMIC!: Siehst du dich auch von anderen Künsten beeinflußt: Graphik, Film, Literatur?
Ulrich Scheel: Ja, Graphik. Mein Vater ist Kuwi und hat zu Ostzeiten beim VBK (= Verband Bildender Künstler der DDR) gearbeitet. Er kannte alle ostdeutschen Maler und Zeichner persönlich. Durch ihn hatte ich immer einen ganz guten Einblick in die Bildende Kunst der DDR. Mit Malerei kann ich nach wie vor nicht so viel anfangen, aber die freien Graphiker sind oft sehr faszinierend mit ihren Radierungen und Drucken, das gefällt mir. Eine Zeitlang dachte ich, ich muß auch Künstler werden, um meinen postpubertären Weltschmerz zum Ausdruck zu bringen. Zum Glück ist das vorbei, es hat ganz schön genervt und selten brauchbare Ergebnisse gebracht.
Film ist auch sehr wichtig. Ich liebe Menschen, die einen Zustand oder eine Situation absolut überzeugend spielen können. Mir selbst macht das auch Spaß, und wenn ich ein kleines bißchen mehr Rampensau wäre, dann wär ich jetzt vielleicht Schauspieler. Ich denke beim Zeichnen in Kameraeinstellungen und Schnittfolgen. Von meinen Figuren verlange ich, daß sie exakt so agieren, wie ich es mir vorstelle. Als Regisseur bei einem Film, was ich früher mal gemacht habe, klappt das nur mäßig. Wie gesagt, ich bin kein großer Comicfanatiker, ich halte ihn einfach nur für ein gut funktionierendes Machtinstrument, um die Puppen tanzen zu lassen.