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COMIC!-JAHRBUCH 2007

Bester Independent Comic:
«Acht, neun, zehn» von Arne Bellstorf

von Clemens Heydenreich
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Arne Bellstorf (geboren 1979) hat gerade erst sein Studium beendet – und schon ist er ein bundesweit gefragter Comic-Autor und Illustrator. Seiner fulminanten, preisgekrönten Diplomarbeit wegen handelt man ihn als Exponenten der «Neuen deutschen Comic-Welle». Dabei möchte sich der Zeichner, Herausgeber (ORANG) und Verleger (Kikipost) nur ungern ein Generations-Label aufdrücken lassen. Jedenfalls nicht, soweit dies Festlegungen bedeuten sollte – denn, so sagt er: «Ich bin noch viel zu sehr am Anfang.»

Wenn das sein Schulpsychologe sähe, würde er wohl von «Antriebsschwäche» sprechen, und das wäre noch vornehm ausgedrückt: Der Knabe steht herum wie stehend K.O. Die Körperhaltung wie ein Schluck Wasser in der Kurve, den Mund über fliehendem Kinn halboffen, der tranige Silberblick geht nach innen und hängt äußerlich irgendwo jenseits des rechten Bildrandes fest – so zeigt das Cover von «Acht, neun, zehn» seinen jungen Protagonisten. Wir werden ihn als Christoph Bachmann kennenlernen: einen sitzengebliebenen Zehntklässler, der eine Spanne stehenbleibender Zeit durchschlurcht, die letzten Sommerferienwochen, nach deren Ende der alt-neue Schulalltag droht. Aus der immergleichen Tristesse seines Vorstadtlebens als Einzelkind einer geschiedenen Mutter, die mit sich selbst nicht im reinen ist, verheißt eine zarte Liebesbegegnung den Ausweg, doch Christoph vermasselt die Sache. Dies immerhin läßt ihn am Ende einen neuen Zugang zur Mutter finden, der es ähnlich geht und die einmal sagt: «Ich kann mir einfach nicht mehr vorstellen, noch einmal so sehr an eine Sache zu glauben.» Da meint sie ihre Ex-Ehe, doch der Satz weist über sich hinaus. Denn das ganze Setting, jenes altbundesdeutsche Tempo-30-Suburbia mit seinen Garagen, Lattenzäunen und getrimmten Hecken – ist es nicht die zur Architektur geronnene Illusionslosigkeit, Vereinzelung, materielle Sattheit einer Eltern-Altersgruppe, die einst ganz große, kollektive, rebellische Ideale hatte? Kein artgerechtes Umfeld jedenfalls für etwelche pubertätstypischen Rebellionsgelüste derer, die da hineinwachsen.
Das wichtigste an seinem Coverbild, das bestätigt Arne Bellstorf, sind Christophs Mimik und Gestik: «Ist es Resignation, ist es Lethargie, ist es einfach nur Sich-hängen-lassen und so gucken? Jedenfalls soll das Cover keine falschen Erwartungen machen, sondern gleich sagen: Es geht um Langeweile.»
Wer das Buch dann trotzdem – oder deswegen – nimmt und liest, dem teilt sich die versprochene Langeweile denn auch in voller Wucht mit – aber ohne daß sie zu seiner eigenen wird. Vielleicht ist damit schon vieles von dem angerissen, was «Acht, neun, zehn» zu einem grandiosen Comic und Arne Bellstorf zu einer großen Hoffnung der deutschen Indie-Erzähler-Szene macht: Bellstorf versteht es, den Leser zur Identifikation mit Christoph Bachmann zu bewegen – und gleichzeitig auch wieder nicht. Man sieht die Welt und das Leben für 86 Seiten mit den Augen eines Menschen, mit dem man ungern tauschen würde – man ist bei ihm und steht doch zugleich neben ihm. Man hört ihn schweigen, wo er besser reden sollte, und Ungeschicktes reden, wo er, wäre er ganz bei sich, jene Sommerliebe vielleicht nicht vermasseln würde. Und im übrigen möchte man um keinen Preis so aussehen wie er.
Die eigenartige Kühle, in der man dem «Helden» gegenüber verhaftet bleibt, ist Bellstorf auch vorgeworfen worden. Aber, mal ehrlich: Wer in der eigenen Pubertät jemals ganz bei sich selbst war, statt neben sich zu stehen, wer niemals eben darum eine hoffnungsvolle Zweisamkeit vermasselt hat und wer bei alledem auch nur eine Minute lang exakt so aussah, wie er gern hätte aussehen wollen, der werfe den ersten Stein. Das Adoleszenz-Thema von «Acht, neun, zehn» könnte adäquater kaum gestaltet werden als durch solche Halb-Distanz, und deswegen seien – bevor wir Arne Bellstorf selbst näherkommen – noch kurz die Mittel betrachtet, mit denen er sie herstellt.
Die Seiten, dreireihig mit maximal drei Panels pro Zeile, wirken so übersichtlich und aufgeräumt wie der Vorstadt-Mikrokosmos, der die Handlung beherbergt und mitprägt. Wenn man näher hinguckt, ist diese Übersicht eigentlich erstaunlich, denn in den Einzelpanels waltet fast immer ein eng begrenzter Blick – auf nahe oder halbnahe Bildausschnitte, so als sehe der Leser die Welt, wie Christoph, unter notorisch hängenden Lidern hindurch. Von Bild zu Bild wechselt dann aber nahezu unentwegt die Perspektive – kaum einmal gibt es gleitende Schwenks, und wenn, dann gleich in Form von Split-Panels, die vom selben Gesamtbild hintereinander zwei Abschnitte zeigen. So entsteht eine untergründige Ebene der Hektik, der inneren Zappeligkeit: Sie läßt erspüren, welche Zumutung jener über allem liegende Mehltau aus Gleichförmigkeit für Christoph bedeutet, obwohl – oder gerade weil – ihm keine rechte Alternative einfällt zu jenem unendlichen Abwarten zwischen Himmel und Hölle, auf das auch die titelgebende Aufzählung «Acht, neun, zehn» verweist. Meist konstant bleibt dann aber wiederum die Blickhöhe der «Kamera»: Sie verharrt, träge und erdschwer, auf Bauchhöhe der Personen. So zeigt sie Gesichter meist in Untersicht und kann jederzeit, ohne daß «blicklogische» Brüche entstünden, aus selber Höhe auf den Boden niederschwenken. Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf zu einer regelrechten Totalen: Dann nehmen wir wirklich, auf Christophs Augenhöhe, dessen eigenes Gesichtsfeld wahr. Stets aber dehnt sich dann auch gleich das zugehörige Panel zu voller Seitenbreite (was eine zähflüssige Zeiterstreckung andeutet), und was sich da so eröffnet, sind: Garagen, Lattenzäune, getrimmte Hecken – und keine Menschenseele. Schon klar, daß sich bei solchem Horizont der Blick verengt.



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Burkhard Ihme (Hrsg.)
Oktober 2006
232 Seiten S/W
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