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Burkhard Ihme (Hrsg.)
November 2004
224 Seiten DIN A4, S/W
EUR 15,25
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COMIC!-JAHRBUCH 2005

Bester Independent Comic:
«Hector Umbra» von Uli Oesterle

Porträt und Interview von Heiner Lünstedt


Uli Oesterle und der gar nicht so normale, aber dafür halbautomatische Wahnsinn

Uli Oesterle ist kein Unbekannter in der Comicszene. Er hat mit der Kurzgeschichtensammlung «Schläfenlappenphantasien» und dem Album «Frass» durch ungewöhnliche Geschichten und sehr eigenwillige Zeichnungen in Deutschland und auch international viel Aufsehen erregt. Mit «Hector Umbra - Der halbautomatische Wahnsinn» hat er sich eine ganze Menge vorgenommen; schon gleich für den Eröffnungsband «Fern von Osaka» hat er den ICOM-Preis für den besten Independent Comic bekommen. Möge dies ein Ansporn sein, diese vielversprechenden Serie rasch fortzusetzen.

Hector Umbra lebt gemeinsam mit seinen Freunden Frantisek und Osaka in der Großstadt. Er ist ein mürrischer Grübler und Zweifler sowie ein verkannter Künstler und Phantast, der zudem viel raucht. Während Frantisek als Bierzeltboxer arbeitet, ist Osaka der beste DJ der Stadt und liebt seine Vinylsammlung mehr als jeden Menschen. Als Osaka plötzlich auf merkwürdige Weise verschwindet, trifft dies Hector besonders hart, denn er hat zuvor bereits einen Freund verloren. Er macht sich auf die Suche nach Osaka und begegnet bei seinen Nachforschungen allerlei merkwürdigen Zeitgenossen: einer ruchlosen Sensationsreporterin, Elektroschwuchteln, willigen Lustsklavinnen, Tanzlingen, gehirnten Dämonen in Öl, Hirngespenstern, Fontanellengnomen, einem mißgünstigen Deejay, gewaltbereiten Wachturmrentnern, einer wütenden Schallplattenfachverkäuferin, einem bedrohlichen Türsteher, alten Freunden, einer musikalischen Wahnvorstellung, einer Untergrundorganisation und einer schwer schuftenden Stadtstreicherin. Und das ist erst der Anfang ...
Das Album «Fern von Osaka» bildet den Auftakt von «Der halbautomatische Wahnsinn». Das 56-seitige Hardcover-Farbalbum erschien bei der «Edition 52» und zeitgleich in Frankreich, dort mit einer Auflage von 2.000 Exemplaren (und binnen kurzem fast vergriffen). Zwei weitere Bände werden folgen und Hector Umbras erstes Abenteuer zum Abschluß bringen. Danach plant Uli Oesterle weitere, dann allerdings in sich abgeschlossene Geschichten mit Hector. In der Serie werden zwar einige altbekannte Klischees bedient, doch Uli versteht es, sie durch Wort und Bild zu ironisieren. Vor allem möchte er aber seine Geschichte auch als Hymne an die Freundschaft verstehen, denn er hat darin eigene Erlebnisse und Erlebnisse von Bekannten verarbeitet und sich vor allem mit dem Tod eines Freundes auseinandergesetzt. Auch Beobachtungen beim U-Bahn-fahren oder spazierengehen waren sehr inspirierend und flossen mit ein.
Uli bezeichnet «Hector Umbra» daher als Mischung aus Szene und Mystery, während der Verlagsprospekt von «Phillip Marlowe trifft Akte X» schreibt. Uli benutzt nicht nur US-amerikanische Versatzstücke, sondern auf den zweiten Blick ist auch vielerlei Lokalkolorit zu erkennen. So ist z. B. einmal die Frauenkirche im Hintergrund zu sehen, und auch sonst wird klar, daß Uli viele Örtlichkeiten seiner Heimatstadt München als Schauplätze verwendet hat. Dabei wurden manche Szenerien allerdings verfremdet oder umbenannt, und sein sehr eigener Zeichenstil hat sowieso nichts «typisch deutsches».
Auf seine Wurzeln befragt, antwortet Uli, daß er vor 1990 eigentlich kaum Comics gelesen hat. Seine ersten Vorbilder waren Charles Burns, den er immer noch bewundert, sowie Daniel Torres und Serge Clerc, die er allerdings heute nicht mehr sehen kann. Mittlerweile schätzt er besonders Carlos Muñoz, und auch die Grafik von Mike Mignola oder David Mazzucchelli gefällt ihm sehr gut. Weitere Vorbilder sind die expressionistischen Maler der Zwanziger Jahre wie Max Beckmann oder Otto Dix.
Uli ist Gründungsmitglied der «Artillerie», der seit November 1995 bestehenden Ateliergemeinschaft von neun comicbegeisterten Zeichnern, die teilweise wie Boris Kiselicki («Cool Brothers») oder Eric Desideriu («Cyberpunk») schon einige Veröffentlichungen vorzuweisen haben. Hier arbeiten Thomas von Kummant und Benjamin von Eckartsberg nach ihrem spektakulären Goethe-Projekt allen Unkenrufen zum Trotz immer noch am immer wieder verschobenen Hohlbein-Comic für Ehapa. Besonders bemerkenswert ist, daß in der «Artillerie» immer noch die lockere Atmosphäre einer tatsächlich funktionierenden Männer-WG herrscht. Uli meint hierzu: «Die «Artillerie» ist das Beste, was mir passieren konnte, und eigentlich ein andauerndes Comic-Seminar. Wir haben viel Spaß, gehen ab und zu trinken oder machen gemeinsam ein Match am Computer. Auch in der Arbeit ergänzen wir uns gut, da wir alle unterschiedliche Spezialgebiete haben. Ich gebe meine Geschichten immer zwei, drei Leuten zum Lesen und bekomme dadurch wertvolle Anregungen und kann verschiedene Quellen anzapfen. Auch die Arbeit der anderen ist immer wieder inspirierend und spornt uns auch gegenseitig dazu an, besser zu werden. Wenn ich alleine vor mich hin wursteln würde, wäre das Resultat mit Sicherheit deutlich schwächer.»



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