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Burkhard Ihme (Hrsg.)
November 2004
224 Seiten DIN A4, S/W
EUR 15,25
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COMIC!-JAHRBUCH 2005

Total globalisiert
Versiegt das franko-belgischen Comic-Wunder? Das Ende der traditionellen Verlagslandschaft

Von Wolfgang Höhne


Jahrzehntelang konnte man sich auf sie verlassen. Sie standen einfach da und funktionierten. Sie produzierten wöchentlich ihre Zeitschriften mit den Fortsetzungsgeschichten und warfen dann die abgeschlossenen Abenteuer als Alben auf den Markt, mit Vorliebe im Herbst für das Weihnachtsgeschäft. Besonders die belgischen Comic-Verlagshäuser blicken mit berechtigtem Stolz auf einen langen, kontinuierlichen Werdegang mit erstaunlich konstanten Programmrichtlinien zurück. Daraus sind so viele berühmte Comic-Helden mit ihren ellenlangen, gutgepflegten Serien hervorgegangen, von denen nicht wenige einen soliden Kultstatus genießen und heute irgendwo in Brüssel als Bronzestatue die Umgebung zieren - ein Status, der früher allein dem Adel und dem Klerus vorbehalten war.
Diese traditionellen Verlagshäuser waren in ihren Verlagsphilosophien derart festgelegt, daß sich nach den daraus hervorgegangenen Produkten die klassischen Stilrichtungen des franko-belgischen Comics herausgebildet hatten. Da gab es das Haus Dupuis, das mit seiner seit 1938 erscheinenden Wochenzeitschrift Spirou den sogenannten Stil- bzw. die «Schule von Marcinelle» hervorbrachte, zu deren wichtigsten Vertretern die Serien «Spirou», «Harry & Platte», «Jeff Jordan», «Lucky Luke», «Valhardi» und viele andere stehen. Dupuis steht für Humor und leichte Kost mit sauberen Helden, die eher unbedarfte Abenteuer bestehen. Lombard steht für Abenteuerhelden im eher realistischen Stil die mehr Spannung als Spaß verbreiten wie «Blake & Mortimer», «Bob Morane» oder «Dan Cooper». Casterman schließlich, zu deren frühen Erfolgen «Tim & Struppi», «Ritter Roland», «Alix» oder «Die Vier» gehörten, legte stets besonderen Wert auf gehobenen Anspruch und stand für Comics, die erziehungsbewußte Eltern ihren Kindern stets bedenkenlos bewilligen konnten.
Zu bemerken ist eine Gewisse Unlogik, daß «Tintin» alias «Tim & Struppi» bei Casterman verlegt wurde, während das Journal de Tintin bei Lombard erschien. Das liegt daran, daß Casterman «Tintin» seit 1929 im Programm hatte, aber kein Comic-Heft produzierte. Der 1946 von Raymond Leblanc gegründete Lombard-Verlage konzentrierte sich dagegen zunächst nur auf sein Comic-Wochenmagazin und heuerte dafür Hergé an, die Alben des Verlages kamen erst nach und nach dazu und spielten noch lange Zeit eine völlig untergeordnete Rolle.
So hatte die belgisch Comic-Welt ihre festen Regeln, in denen sich Leser, Autoren und Sammer bestens zurechtfanden. Auch so kleine Besonderheiten, daß Dupuis-Alben stets 44 Seiten, die anderen aber 46 Seiten hatten, zeugen von langbewährten Produktionseigenheiten, die den Verlagsprodukten die besondere Note verliehen. Die großen Verlage standen für eingefleischte Stilrichtungen, nach denen die Sammler ihre Gebiete abstecken konnten; die verschiedenen Serien eines Verlages paßten im Regal schon rein optisch harmonisch zusammen. Alleine am Buchrücken erkennt der versierte belgische Comic-Liebhaber die Gattung und vermag dadurch am Wühltisch - ohne es aufzuschlagen oder auch nur den Titel zu lesen - in Sekundenschnelle zu unterscheiden, ob dieses Album ihn interessieren könnte oder nicht. Man glaubt gar nicht, wie praktisch eine derart festgefügte Verlagslandschaft für den Sammler ist, wenn er aufgrund von äußeren Merkmalen des Einbandes so zielsicher auf den Inhalt des Albums schließen kann.
Dargaud, dessen Gründer George Dargaud seine ersten Erfahrungen im Umfeld von Lombard gemacht hatte, landete mit «Asterix» einen absoluten Glücksgriff und verschaffte so seinem Magazin Pilot einen fulminanten Start. Anders, als bei den drei übermächtigen belgischen Konkurrenten erlaubte Dargaud seinen Autoren als erstes, eine politische Komponente in die Geschichten einzuweben. Zu den großen Klassikern gehören neben «Asterix» und «Achille Talon» (Albert Enzian) die Serien «Blueberry», «Valérian», «XIII» und «Mick Tanguy».
Mit den 1968ern kam die Stunde der Kleinverleger, die erstmals politische und erotische Comics für ein rein erwachsenes Publikum herausbrachten. Die vier großen Verlage peppten zwar ihre Programme mit allerlei neuen weiblichen Heldinnen auf, blieben insgesamt von dem Gezeitenwechsel aber erstaunlich wenig beeinflußt. Weder «Natacha», noch «Yoko Tsuno», «Monika Morell», «Nanouche», «Aria» oder «Comanche» überschritten wirklich die gegebenen konservativen Normen, genaugenommen fand hier lediglich eine überfällige Anpassung an die gesellschaftlichen Gegebenheiten statt; von wirklicher Avantgarde war bei den großen Serien entgegen heute weitverbreiteter Fan-Meinung nur wenig zu spüren. Die blieb den kleinen, jungen wilden Verlagen vorbehalten, allen voran den Humanoïdes Associés. Aber dadurch, daß ein paar neue Winzlinge hinzukamen, wurde die alte Comic-Verlagslandschaft nicht wirklich durchgerüttelt.
Der erste wirkliche Störenfried, der die alte Szene durcheinander brachte, war Jacques Glénat aus Grenoble. Dieser eher unkonventionelle Verleger verzichtete auf das Korsett eines vordefinierten Verlagsprogramms und veröffentlichte alles durcheinander, solange es ihm nur lohnend erschien. Seinen ersten großen Erfolg landete Glénat mit Bourgeons «Reisenden im Wind» und «Die Türme von Bos-Maury». Durch die große Nachfrage beflügelt, brachte Glénat kurzerhand ein ganzes Magazin mit Historiencomics namens Vécu (erlebt) auf den Markt. Doch auch dieser Quereinsteiger vom Alpenrand vermochte es nicht, die festgefügten Profile der großen Vier zu beeinträchtigen.
Mit Soleil und Delcourt traten zwei neuen Verlage auf den Plan, die die bis dato unbeackerte Nische des Fantasy kultivierten und das Ganze mit je einem ordentlichen Schuß Erotik würzten, der sich nicht, wie bei den Erwachsenencomics etablierterer Verlage, diskret im Inhalt versteckte, sondern provokant auf dem Cover prangte. So gelangen den Neulingen durchaus gewissen Achtungserfolg wie «Vae Victis» oder «Les Feux d’Askell». Der Durchbruch zu einer wirklichen Bestsellerserie gelang indes nie. Die hierbei oft gestellte Frage lautet: verhilft die derart zur schau gestellte sexuelle Komponente diesen Serien zu ihrem mittelmäßigen Erfolg, oder verhindern die meist so offensichtlich nur aufgesetzten Sexszenen nicht eher den tatsächlichen Durchbruch zum richtigen Erfolg? Es ist schwer zu sagen; den einen Käufer mag die Freizügigkeit dieser Comic zum Kauf animieren, den anderen eher abschrecken. Entscheidend aber ist, daß sich auch diese Verlagsneulinge insgesamt wie klassische Comicverlage verhielten und ein in sich sehr homogenes, konsequentes und wiedererkennbares Programm aus nahezu ausschließlich eigenen Produktionen aufbauten.
Fest stand ebenfalls, daß die Autoren den Verlagen recht treu waren. Der einzige spektakuläre Wechsel, der in dieser klassischen Periode stattgefunden hatte, war der Übergang der Serien Lucky Luke von Dupuis zu Dargaud nach Band 33 «Tortillas für die Daltons». Die Serie konnte durch den Wechsel zu Pilote etwas frecher und politischer werden und die Alben erschienen jetzt aufgewertet mit Hardcover, etwa im selben Look wie «Asterix».



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