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Burkhard Ihme (Hrsg.)
Oktober 2003
256 Seiten DIN A4, S/W
EUR 15,25
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COMIC!-JAHRBUCH 2004

Bildidiotismus und Jugendnot
Wie deutsche Pädagogen Kinderseelen retteten

Von Christian Vähling

Vor ziemlich genau fünfzig Jahren trat in der Bundesrepublik das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften (GjS) in Kraft. Das war ein erster Höhepunkt einer Kampagne, in deren Verlauf vor allem die Comics als jugendgefährdendes Medium nachhaltig gebrandmarkt wurden, auch wenn das GjS noch nicht ausdrücklich auf dieses Medium eingeht. Neben den Comics standen vor allem die Groschenromane, auch Schundhefte oder Schmöker genannt, bestimmte Filme (vor allem amerikanische Krimis und Western) und Rock’n‘Roll-Musik im Zentrum des Schundkampfes, der fast das gesamte Jahrzehnt andauerte.
Im Nachhinein wird gerne gesagt, dass jedes Medium eine Phase der gesellschaftlichen Ächtung durchmachen muss, bevor es ernst genommen wird. Darüber hinaus ist der Schundkampf zwar oft beschrieben, aber kaum mit theoretischen Fragestellungen untersucht worden, um seinen Erfolg zu erklären, und um die nachhaltigen Vorbehalte gegen Comics richtig einschätzen zu können.
Die Stigmatisierung des Comic als Kindermedium verknüpft die Kampagne mit der Frage des Jugendschutzes. Die Comics-Kampagnen bringen wie kaum eine andere vorher die Themen Jugendschutz, Jugendgewalt und Jugendkultur auf eine gemeinsame Ebene. Ferner zeichnet sich der Comic-Diskurs, zumindest in Deutschland, durch eine völlige Kenntnislosigkeit der Akteure gegenüber dem Medium aus; der Comic war ein Zeichensystem, zu dem vor allem die Kinder der Nachkriegsgeneration Zugang hatten und die Eltern nicht. So gesehen, lässt sich der Konflikt als Generationenkonflikt deuten, der sich um die Gültigkeit kultureller Codes drehte. Auf jeden Fall aber lässt sich am Beispiel des Comic besonders gut beobachten, wie Argumente aus früheren Diskursen einen neuen Diskurs bestimmen - schon weil die Akteure dieser Phase nicht über die Erfahrung verfügten, dem neuen Medium mit "eigenen" Argumenten zu begegnen.

Heute ist der Gewalt fördernde Einfluss von Massenmedien, wie es scheint, eine ausgemachte Tatsache. Wann und warum auch immer ein besonders schockierendes Verbrechen von Jugendlichen begangen wird, reicht das bloße Auffinden gewalthaltiger Medien in der Wohnung des Täters, um die Debatte von dessen Umfeld zu den jeweiligen Medien zu lenken. Das Erklärungsmuster "Mediengewalt" ist so stark, dass es alternative Erklärungen verdrängen oder zumindest relativieren kann. So wurden anlässlich des jüngsten "Amoklaufs" in Erfurt zunächst noch die ausweglose schulische Situation des Täters und das strenge Schulsystem Thüringens als Tatmotive mit thematisiert, aber nach kurzer Zeit wurde dieser Diskurs fast völlig von der Diskussion über ein neues Jugendschutzgesetz überlagert (was besonders interessant ist, weil der Täter volljährig war).
Eine solche Macht über die gesellschaftliche Problemwahrnehmung kann das Erklärungsmuster "Mediengewalt" nicht allein aus den Sachverhalten heraus entwickeln, denn die geben nicht viel her. Vielmehr erscheint das Muster als Produkt einer Denktradition, die neben den inzwischen fast sprichwörtlichen Vorbehalten gegen neue Medien auch die Differenzierung zwischen hoher und niederer Kultur umfasst, die Abwertung der Massen als unkultivierte Konsumenten, den Jugendschutzgedanken und die Bewertung des (ständigen) Wandels der Sitten als Verfall. In Anlehnung an den Philosophen Michel Foucault können wir hier von einem "Schundkampf-Dispositiv" sprechen. Ein Dispositiv ist die Gesamtheit der diskursiven und gesellschaftlichen Praktiken, die auf einen Gegenstand (etwa die Schundliteratur) bezogen werden. Es umfasst die Institutionen, Traditionen, Diskurse, das Verhältnis zu anderen Gegenständen, und es beinhaltet die Regeln, nach denen es sich in einer neuen gesellschaftlichen Situation reproduziert.

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